Bilderfluchten

Sherko Fatahs Roman „Schwarzer September“ ähnelt einem Filmdrehbuch

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sherko Fatah ist ein guter Erzähler. Davon zeugen Romane wie Das dunkle Schiff (2008) oder Ein weißes Land (2011). In seinem jüngsten Roman Schwarzer September (2019) hat Anwar, der Held aus Ein weißes Land, einen kurzen Gastauftritt als Überbleibsel einer faschistischen Vergangenheit irakischer Offiziere: Mit seinem entstellten Gesicht, das von seinem Kampf in einer SS-Division im Zweiten Weltkrieg herrührt, dient Anwar im Bagdad der 1960er Jahre erneut einem irakischen Militär. Ihm statten die evangelikalen Eltern eines künftigen CIA-Agenten gemeinsam mit ihrem damals halbwüchsigen Sohn einen Besuch ab. Heller, der spätere Agent, erinnert sich an den Anblick Anwars mit Schaudern. Doch der Gesichtsverlust Anwars ist nicht zuletzt auf der allegorischen Ebene vielsagend.

Fatahs bevorzugtes Sujet sind die Verflechtungen des Mittleren Ostens und Europas im 20. Jahrhundert. Nationalismus und Sozialismus sind das gemeinsame Erbe beider Regionen zwischen und nach den zwei Weltkriegen. Die dritte totalitäre Anfechtung liberaler Demokratien ist der politische Islam. Schwarzer September endet mit dem Bombenanschlag einer vom Iran unterstützten islamistischen Terrorgruppe auf die amerikanische Botschaft in Beirut im April 1983. Religiöse Fanatiker hatten im gemeinsamen Kampf gegen den Westen über die konkurrierenden säkularen Akteure triumphiert.

Der Roman leuchtet die Zeit kurz vor Beginn des libanesischen Bürgerkriegs in Beirut aus. Im Libanon bildeten westlich orientierte Christen die größte Bevölkerungsgruppe, bis sich die Mehrheitsverhältnisse Anfang der 1970er Jahre mit der Masseneinwanderung palästinensischer Flüchtlinge änderten. Die 1964 gegründete Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) unter Jassir Arafat hatte durch Terrorakte und ein Attentat auf den damaligen König Hussein I. 1970 den jordanischen Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen und war aus Jordanien ausgewiesen worden. Schwarzer September nennen die Palästinenser sowohl dieses Ereignis als auch die gleichnamige Terrororganisation. Flugzeugentführungen, Bombenattentate, Morde wie jener am jordanischen Premierminister Wasfi at-Tall in Kairo 1971 – mit ihm setzt der Roman ein – oder die tödliche Geiselnahme der israelischen Olympiamannschaft in München 1972 gehen auf ihr Konto. Zur radikalen Linken in Westdeutschland und zur DDR pflegte die PLO enge Kontakte. Leider unterschlägt Fatah den Einfluss der UdSSR wie des gesamten Ostblocks auf die politische Lage im Mittleren Osten. Bei Fatah bilden allein die Verfechter eines politischen Islam den Osten, nicht aber seine Rivalen, die mit dem Ostblock alliierten arabischen Sozialisten und Nationalisten, die es in ansehnlicher Zahl gegeben hat – man denke an die Baath-Bewegung, an Panarabisten wie Gamal Abdel Nasser in Ägypten, an Hafiz al-Assad in Syrien oder an Saddam Hussein im Irak.

In Fatahs Beirut bewegen sich Flüchtlinge, die PLO, Clans, Junkies, Schiiten, ein Imam, linke Studenten aus Frankfurt und die Mitarbeiter einer CIA-Abteilung. Arabische Christen spielen im Roman kaum eine Rolle und tauchen nur am Rand in Gestalt eines Buchhändlers und eines Generals auf. Weder die Vereinigten Staaten noch westdeutsche Linke bestimmten die internen Konflikte des Libanon, gehören aber zu Fatahs Hauptakteuren. Wie es zum Bürgerkrieg kam, kann Fatah folglich nicht klären. Viel und abstrakt ist von anonymen Mächten, Fremden, Kulturen und Religionen die Rede, ohne dass die komplexen Beziehungen greifbar würden. Fatahs Vorliebe gehört jungen muslimischen Männern aus armen Verhältnissen wie dem Palästinenser Ziad, einem Sunniten, oder dem Schiiten Bulbul. Mit ihnen wird der Islam im Roman zum bestimmenden Faktor, denn Ziad ist von der PLO enttäuscht und Bulbul von seinen wechselnden Arbeitgebern, den verschiedenen Clans. Beiden bietet die religiöse Amal-Bewegung eine Alternative zu den Nationalisten und Sozialisten, die in der arabischen Welt seit dem Sieg Israels im Sechstagekrieg 1967 schwer angeschlagen waren.

Bei Fatah wird der Islam als vermeintlich authentischere Emanzipationsbewegung dargestellt, weil er den gesellschaftlichen Fortschritt als Stimme der sozial benachteiligten nichtchristlichen Araber repräsentiert. Das ist der Grund, weshalb der Islam bei vielen westlichen Linken als „progressive“ Kraft gilt (Judith Butler ist heute nur die bekannteste westliche Intellektuelle, die diese ideologisch verzerrte, ziemlich verstiegene Auffassung vertritt). Der politische Islam ist am Schluss des Romans der entscheidende Machtfaktor und Akteur im Libanon. Religiöse Terrorgruppen wie die libanesische Hisbollah (gegründet 1985), die palästinensische Hamas (gegründet 1987) sowie der Kollaps des Ostblocks (Waffenlieferungen blieben aus) markierten in der Folge den drohenden Bedeutungsverlust der PLO, weshalb ihr damaliger Chef Jassir Arafat in den 1990er Jahren zu inzwischen gescheiterten Friedensverhandlungen mit Israel bereit gewesen ist.

Doch die vom Fatah gewählte Darstellungsform ist literarisch nicht ambitioniert. Ähnlich einem Politthriller reiht er die einzelnen kurzen Abschnitte wie Filmsequenzen aneinander, die meist der Perspektive einer Figur gewidmet sind und in der dritten Person erzählt werden. Sie brechen exakt in dem Moment ab, in dem die Leser wissen wollen, was weiter geschieht. Der bewährte Kunstgriff von Kriminalromanen und Fernsehserien steigert die Spannung und die Leser bleiben am Ball. Der Roman ähnelt einem Drehbuch und darin besteht das Problem: Man sieht und hört bei Fatah schneller als man lesen kann und das ist weder eine Frage der Satzkürze noch der Plastizität, sondern eine der unterschiedlichen Modalitäten des bildlichen Verdichtens in Literatur und Film.

In Schwarzer September aktiviert Fatah mit wenigen Worten meist nur ein gut gefüttertes Kino- und Fernsehgedächtnis heutiger Leser. Fast automatisch stellen sich vorfabrizierte Bildwelten ein, die mit der spiegelstrichartig plakatierten Gedankenwelt der westdeutschen Linken kombiniert werden. Neben der Eingangspassage weichen wenige Abschnitte von diesem Prinzip ab. Etwa das traurige Schicksal Munirs, einer Nebenfigur, die als Taxifahrer in eine Entführung verwickelt ist, und von einem Fedajin angeschossen wird. Ob Munir stirbt oder überlebt, bleibt offen. Fatah beschreibt seinen langsam schrumpfenden, verendenden Blick: Munir schaut in die erschreckten Augen eines palästinensischen Jungen, der den Todesschützen in Munirs Rücken sieht, und taumelt ahnungslos weiter ins Blackout. Das lässt sich literarisch evozieren, aber nicht adäquat verfilmen. Hier ist Fatah ganz auf der gewohnten Höhe seines Könnens. Oder die Passage, in der Alexander, ein westdeutscher Student, nach dem Abholen falscher Pässe in Ostberlin diesen kurzen „Aufenthalt in der Zukunft“ als deprimierend resümiert. Sonst jagt, anders als in Fatahs früheren Romanen, in Schwarzer September ein Klischee das andere. 

Nicht wenig dazu beigetragen haben dürften die Fernsehdokumentationen über palästinensischen und linken Terror, die dem Autor vermutlich als Recherchematerial gedient haben. Kundige Leser erkennen ihren Einfluss sofort. Sei es der in der Tat brillante Dokumentarfilm München 1970, Als der Terror zu uns kam von Georg Haffner aus dem Jahr 2012, sei es der journalistisch wenig verlässliche, vor judenfeindlichen Stereotypen nur so wimmelnde Doku-Dreiteiler Im Fadenkreuz des Mossad von 2006, seien es andere, mühelos auf youtube abrufbare Fernsehproduktionen. Manche Aussagen in Zeitzeugeninterviews stimmen sinngemäß mit Gedanken und Äußerungen von Figuren in Schwarzer September überein.

Fatahs Roman hat eine entschieden propalästinensische, antiwestliche und antiisraelische Schlagseite. Die Perspektiven Ziads oder des CIA-Agenten Amos werden nicht hinreichend durch andere ausbalanciert. Viktor und Heller, ebenfalls CIA-Agenten, wirken hilflos, und die Mossad-Agentin Elvira (spielt auf Erika Chambers an) ist eine Nebenfigur und gilt den linken Studenten als „Verräterin“. Für den Westen repräsentativ sind im Roman schnelle Autos, modische Kleidung, erotische Frauen, der Marlboro-Mann, kurzum die seit einem halben Jahrhundert kritisierte Konsumkultur, aber nicht die individuell einklagbaren Freiheits- und Bürgerrechte, durch die der Westen seine Dynamik, Kritik-, Wandlungs- und Innovationsfähigkeit sichert.

Die Figuren Ziad und Amos bewegen sich auf einem ungewöhnlich hohen Kenntnisstand und Reflexionsniveau. Gelegentlich denken und reden sie so wie der palästinensische Panarabist, PLO-Aktivist und amerikanische Literaturwissenschaftler Edward W. Said (Orientalism, 1978; Culture and Imperialism, 1993). Amos, der auf den realen CIA-Agenten Robert Ames anspielt, der beim Bombenattentat 1983 getötet wurde und Kontakte zu Ali Hassan Salameh unterhalten haben soll, pflegt in Fatahs Roman eine ausgesprochene Arabophilie, wie sie für viele deutsche Intellektuelle seit dem 18. Jahrhundert und für die studentische Linke in der Bundesrepublik typisch gewesen ist. Salameh, der in den Medien und bei Fatah auch der „rote Prinz“ und die „Nummer Eins“ genannt wird, gehörte zum Führungszirkel Jassir Arafats und galt als Bonvivant. Er hatte wie viele PLO-„Kämpfer“ – der aktuelle PLO-Chef Mahmud Abbas ist ein weiteres Beispiel – einen Teil seiner Ausbildung in Moskau absolviert.

Die Tötung mehrerer PLO-Terroristen durch den israelischen Geheimdienst Mossad war gewiss kein Ruhmesblatt in Israels Rechtsstaatsgeschichte (außerdem gab es Tote unter Unbeteiligten und den schweren Irrtum in Lillehammer). Dahinter steckten aber keine Rachegefühle oder Vergeltungsdrang, sondern das nüchterne Kalkül, Palästinenser von weiteren Geiselnahmen und Morden an israelischen Zivilisten weltweit abzuhalten. Anders als Amos im Roman mutmaßt, beabsichtigte Israel nicht, in „alttestamentarischem“ Furor die PLO zu liquidieren. Fatahs Figur ist einer antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr aufgesessen. Die PLO-Charta forderte die Zerstörung des Staates Israel und attackierte das Land in den 1970/80er Jahren vom Südlibanon aus mit Terroranschlägen; die Hamas wie die BDS-Kampagne tun dies bis heute. Dass aus etwa 850.000 palästinensischen Flüchtlingen inzwischen mehrere Millionen geworden sind (der palästinensische Flüchtlingsstatus ist vererbbar), kann man nicht dem Staat Israel anlasten, der seinerseits die etwa 850.000 jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Staaten aufgenommen und integriert hat. Anstatt die Teilungspläne zu akzeptieren und Israel anzuerkennen, versteiften sich die Führer der palästinensischen Nationalbewegung darauf, das „zionistische Gebilde“ zu beseitigen. Sie investierten internationale Hilfsgelder in Waffen, Terroraktivitäten und die Aufrechterhaltung ihres diktatorischen Machtapparats. Palästina war nie eine ethnische Bezeichnung, sondern der römische, damit europäische Name eines Landstrichs, den seit Jahrhunderten Juden, Christen, Muslime, Drusen etc. bevölkerten. 

Junge arabische Männer wie die Figur Ziad, auf die sich das Romangeschehen zunehmend konzentriert, gibt es millionenfach im Mittleren Osten und inzwischen auch in Europa. Ihre Zukunft wird unter anderem davon abhängen, ob es gelingt, die Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten zu ächten, die Clan- und Stammesstrukturen aufzubrechen, das Säkularitätsprinzip zu verankern, Gleichberechtigung in die Geschlechterbeziehungen einzuführen, Gewaltenteilung zuzulassen und eine soziale Marktwirtschaft zu etablieren. Europa hat für all das bis fast zum Ende des 20. Jahrhunderts gebraucht. Als Leserin wünscht man sich, Sherko Fatah würde die Verwicklungen, Verstrickungen und Irrtümer der Menschen in beiden Regionen, im Westen und im Osten, künftig wieder literarischer verarbeiten.

Titelbild

Sherko Fatah: Schwarzer September. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
379 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874753

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