Was wissen wir schon
Im Roman „Tao“ wahrt Yannic Han Biao Federer literarisch geschickt den Sicherheitsabstand zur grausamen, unausgesprochenen Vergangenheit seiner Familie
Von Frank Riedel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas mediale Überangebot und die fast uneingeschränkte Verfügbarkeit von Informationen beliebiger Art vermitteln einem oft das Gefühl, in der Wissensgesellschaft gäbe es, zumindest keine offensichtlichen, weißen Flecken mehr. Auch das räumlich und zeitlich noch so weit Entfernte kann in Sekundenschnelle und mit Erklärungen in unsere Wohnzimmer Einzug halten. Dass unser Wissen über Geschichte, Kultur und Gesellschaft der Länder der ost- und südostasiatischen Region, von der hier durch eine Familiengeschichte die Rede sein wird, trotz dieser Entwicklung getrost dürftig genannt werden darf, ist eher darauf zurückzuführen, dass Hongkong, Indonesien, Singapur, Thailand oder Vietnam weitestgehend außerhalb unserer Aufmerksamkeit zu liegen scheinen. Doch es gibt sie, die ersten Deutschen mit Vorfahr:innen aus dieser Weltgegend in der Öffentlichkeit, die sich zunächst in den Bereichen Journalismus und Wissenschaft, nun auch in der Literatur daran machen, als Schriftsteller:innen die entsprechenden Bezüge herzustellen, die Einwanderungsgeschichte(n) literarisch zu verarbeiten und unsere Erfahrungshorizonte – etwa mit der vietdeutschen Community wie Khuê Pham in ihrem Debütroman Wo auch immer ihr seid (2021) oder der chinesisch-deutschen wie Lin Hierse in Wovon wir träumen (2022) – zu erweitern. Zugegebenermaßen setzen sie ihrer ‚Unsichtbarkeit‘ um einige Jahrzehnte später ein Ende als Eingewanderte aus Ost- und Südeuropa oder dem Nahen Osten.
Auch Yannic Han Biao Federer nimmt uns in seinem Roman Tao auf eine Erinnerungsreise, die von China über Indonesien nach Hongkong und Süddeutschland führt, mit. Sein Protagonist Tao, der fast überall und sogar auch von seinem Vater Tobi genannt wird, begibt sich auf die Spuren seiner Vorfahren, um das über drei Generationen bis ins Breisgau reichende Familientrauma zu ergründen. Der Opa, ein Chinese, war an reiche Landsleute in Indonesien als Kindersklave gegen ein oder mehrere Tiere eingetauscht worden, damit die Familie keinen Hungertod sterben musste. Als dann 1965 in Indonesien das systematische Massenmorden an Kommunisten und chinesischstämmigen Bürgern begann, chinesische Schulen geschlossen und chinesische Namen verboten wurden, flieht Taos Vater nach Deutschland. Im fortgeschrittenen Alter lassen ihm die offenen Fragen nach dem „Was war?“ keine Ruhe. Er träumt, driftet ab, treibt fort, „um Jahre erst, dann Jahrzehnte, um Tausende Kilometer. […] Die Träume, die erst nachts eingesetzt hatten, schienen ihn jetzt auch tagsüber einzuholen, die Träume, die eigentlich Erinnerungen waren.“ Daher reist er zurück nach Asien, um den Geburtsort seines Vaters zu finden – und verschwindet.
Tao, obwohl in Deutschland geboren, wird überall und ständig, nach seiner „eigentlichen“ Herkunft gefragt. Das nervt im Roman auf die Dauer und generiert genau dadurch Verständnis für Federers Protagonisten. Aber damit nicht genug: Auch der wirklich gute Freund Micha, mit dem Tao ständig im SMS-Dialog steht, wird immer wieder zum Alltagsrassisten. Er möchte die Geschichte der Unruhen um die gewaltsame Niederschlagung der Hongkonger Demokratiebewegung literarisch aufarbeiten und formt seine Hauptfigur ganz nach seinem Freund Tao, dem das allerdings unangenehm und viel zu nah erscheint. Hier rekurriert Federer auf die Debatte um die kulturelle Aneignung und lässt dabei Micha unsensibel und schlecht aussehen. Die Freundschaft der beiden kann das aber dennoch nicht zerstören.
Für Tao ist das stets in der Familie totgeschwiegene Thema ebenso unausweichlich wie brisant. Er, der vom Vater höchstens über drei Ecken bruchstückhafte Erinnerungen erzählt bekam, stellt Fragen und recherchiert Fakten, äußert sich aber nur mit literarischem Sicherheitsabstand. Er schreibt einen Roman und lässt sein Alter ego, Alex, die Realität erleben und weitergeben. Durch diese dazwischengeschaltete Ebene ist es leichter, verschiedene Fiktionalisierungen und auch Meinungen wiederzugeben, Fluchtstrategien und den Umgang mit Erinnerung vielschichtig darzustellen:
Wenn ich also morgens am Schreibtisch saß und schrieb und dabei nicht nur das zu Papier brachte, an was ich mich erinnern konnte, sondern zugleich auch erzählte, was ich nicht genau wissen konnte, aber mir doch zumindest nach und nach vorzustellen versuchte, zu verstehen versuchte, […] zumindest glaubte ich da, dass sich etwas in mir sortierte, in Ordnung kam, was zuvor, immer schon, in Unordnung gelegen hatte.
Die Suche nach seiner Geschichte, nach den Anfängen, die den Vater schon beunruhigten, verwirrt auch Tao und er gibt diese Verunsicherung an seine Figur Alex weiter. Tao verkraftet die Trennung von seiner Freundin Miriam kaum, muss aus der gemeinsamen Wohnung und dem eingespielten Leben raus, in eine alles andere als menschenfreundliche Umgebung. Er versucht das mit Reisen nach Cuxhaven, Rügen, Breslau, Wien, Zagreb, Split und Montabaur zu kompensieren, will zusammen mit den Selfies und Facebook-Einträgen auch seine Erinnerungen löschen. War etwa der Tod von Miriams Vater der eigentliche Trennungsgrund? Wollte sie dem allgegenwärtigen Schmerz entkommen, in dem sie sich ausschwieg? Oder galt es zu verhindern, dass ihre Erfahrungen mit dem Verlust des Vaters in Taos literarischen „Vatertod“ mit einfließen?
In Taos Autofiktion sieht auch Alex ‚anders‘ aus, wird ebenfalls immer wieder nach seiner ‚eigentlichen‘ Herkunft gefragt. Sein Vater hat es nach Deutschland geschafft und wird in der indonesischen Heimat von den Verwandten und Bekannten für reich gehalten. Er ist dort aufgewachsen, gehörte zur chinesischen Minderheit ohne Chinesisch zu sprechen und hat Alex das Indonesische nicht beigebracht. Er nahm bei der Hochzeit den Nachnamen der deutschen Mutter seines Sohnes an, weil sein indonesischer Familienname für ihn nicht sein richtiger war. Und obwohl der Vater in Freiburg studierte und sogar promoviert wurde, wird er als „deutscher Auslandschinese mit indonesischem Namen, der seine Gesuche auf Englisch schrieb“, von der deutschen Gesellschaft nicht ernst genommen. Um finanziell über die Runden zu kommen, jobbt er in einem Asia-Shop in Reutlingen. Auch sein Sohn hat mit Alltagsrassismus zu kämpfen: Alex‘ WG-Freunde lästern über Indonesien, es sei dort dreckig, gebe Stau, Smog, die Menschen seien unzuverlässig, ungebildet, einfach zu blöd und korrupt, die Frauen verschleiert. Sie nennen ihn bei aller Freundschaft auch mal „Chinese“.
Federer erzählt seine Geschichte aus einer für uns unbekannten (Migrations-)Region und reflektiert dabei die Tücken des literarischen Schreibens. Er erzählt Tao-Tobis Leben, seine innere Verpflichtung, die Geschehnisse, die zum Tod des Vaters in Hongkong führten, zu ergründen und aufzuschreiben. Was als Migrationsgeschichte beginnt, entpuppt sich als ein Kommentar zu postmigrantischen deutschen (nicht nur familiären) Realitäten. Das fehlende Gefühl von Zugehörigkeit sowohl zwischenmenschlich – in der Familie, Freundschaft oder Partnerschaft – als auch zu einer Gesellschaft, deren Teil man ist oder zu sein versucht, stehen im Mittelpunkt des Romans. Was auf verschiedenen Erzählebenen aus verschiedenen Perspektiven entfaltet wird, ist also weniger eine Auseinandersetzung mit den eigenen unvollständigen Erinnerungen als vielmehr eine fundierte Wahrnehmungsschulung.
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