Ein „Unstudierter“, der schreibt
Wie Franz Michael Felders Autobiographie durch ihre „wirksame Einfachheit“ auch noch heutige Leser*innen begeistern kann
Von Werner Jung
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist nicht so, dass diese Lebensaufzeichnungen des Vorarlberger Bauern Franz Michael Felder (1839-1869) nicht schon einmal erschienen wären. Allein in den letzten 120 Jahren ist das bemerkenswerte Buch mindestens fünf Mal gedruckt worden. Allerdings geht die nun vorliegende, von Jürgen Thaler mit Kommentaren und einem Nachwort versehene (Lese-)Ausgabe auf die noch erhaltene Handschrift Felders zurück.
Mit seinen autobiographischen Aufzeichnungen, die von Felder als erster Teil bezeichnet werden – dem leider kein weiterer mehr folgen konnte –, liegt ein eindrucksvolles Dokument aus der Mitte des sogenannten bürgerlichen 19. Jahrhunderts vor, das alles andere vorführt: bloß keine bürgerliche Sozialisation. Im Gegenteil. Bäuerlich-dörfliche Existenzen im Alpenraum stehen im Mittelpunkt, damit eine Lebensweise, die von harter körperlicher Arbeit, tief religiösem Empfinden und einer Ablehnung modern-urbanen Denkens geprägt ist, wie es – auch in Österreich – die Aufklärung samt politischer Bestrebungen, die sich gegen den Ständestaat richten, verbreitet. Felder zeigt anschaulich, dass und wie er in solchen Verhältnissen aufwächst – früh ist er durch eine Augenverletzung eingeschränkt, verliert auch schon jung den Vater und ist dadurch gezwungen, die Familie zu unterstützen, d. h. sich ums Vieh zu kümmern und einen Teil des Jahres auf einer Alb zu verweilen. Ein ebenso karges wie – so scheint es an zahlreichen Stellen der Darstellung auf – eintönig-langweiliges Leben, zu dessen Höhepunkten noch (in den Anfangsjahren des Kindes und Jugendlichen) der sonntägliche Messebesuch wie überhaupt die Feste des Kirchenjahres zählen. Wichtigster Einschnitt bis dahin in Felders Leben ist das Lesenlernen, damit sein Eintritt in dasjenige, was die Poststrukturalisten die „symbolische Ordnung“ genannt haben, in einen ‚Weltraum‘, von dem das traditionelle Bauerntum systematisch seit Jahrhunderten ausgeschlossen war. Und Felder beginnt zu lesen, begeistert sich zunächst an den Kalendern, darf die (überschaubare) Bibliothek des Pfarrers benutzen, lernt Zeitungen und Zeitschriften wie die Gartenlaube kennen und beschäftigt sich – völlig ungeordnet – mit den Klassikern der deutschen Literatur von Wieland und Klopstock über Humboldt, Goethe und Schiller bis zu den Zeitgenossen wie Jeremias Gotthelf. Doch dadurch erlebt er auch Gegensätze und Widersprüche, gilt den Dörflern als skurriler Außenseiter und Bücherwurm, den man nicht allzu ernst nehmen darf; schließlich dringt der Zwist in ihn selbst ein, verbunden mit der existentiellen Frage, wie er die Lektüre und das Leben wieder sinnvoll miteinander vereinigen kann. Bisweilen kommt ihm nämlich das Lesen gefährlich vor, worin er nun Gedankengänge aus der Zeit der Spätaufklärung des 18. Jahrhunderts in die eigene Zeit hinein verlängert, ebenso wie er nun auch an Gott zweifelt und mit der Religion hadert. Als er dann ein Mädchen kennenlernt, seine spätere Frau, mit der gemeinsam zu leben Felder allerdings nur wenige Jahre beschieden sind, steigert sich der Selbstzweifel noch:
Ich hatte aus meinen Büchern die Vorstellung, dass sich liebe, was sich ergänze, sie aber sah ich so vollkommen, so in sich selbst abgeschlossen, dass ich nicht gewusst hätte, was meine Liebe ihr bieten, wie sie noch glücklicher machen könnte. Ich mit meiner Unruhe, meinem unbefriedigten Wesen, meiner inneren Zerrissenheit, sah mich ihr fern, fern, aber die Strahlen der Sonne tun jedem wohl, wie fern ihm das herrliche Tagesgestirn auch immer bleiben mag.
Eine Möglichkeit, aus dem Dilemma herauszukommen, mögen der Schreibprozess und die eigene schriftstellerische Produktion, von denen die Leserin und der Leser in den Lebensaufzeichnungen freilich nur am Rande erfahren, gewesen sein: der mühevolle, autodidaktische Aufstieg eines, wie es an einer Stelle heißt, „Unstudierten“, der „etwas Schönes schreiben“ kann.
Bereits ein seinerzeit nicht ganz unbekannter Literarhistoriker und Germanist wie Rudolf Hildebrand bemerkte über Felders Autobiographie, dass sich Felder „von den Nachwirkungen des Wielandschen Stils“ befreit und nun „zu wirksamer Einfachheit“ gefunden habe. Eine Einfachheit, die auch heute noch faszinieren kann.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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