Vom Vergessen und Erinnern

Der belarussische Autor Sasha Filipenko verbindet in seinem Roman „Rote Kreuze“ Geschichte und Fiktion auf gelungene Weise

Von Ada FroniaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ada Fronia

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Momente und Zeiten, die will man nicht vergessen, und welche, die man unbedingt vergessen möchte. Es gibt Zeiten der Unmenschlichkeit, Kaltherzigkeit und Gefühlslosigkeit. Solche, die Auswirkungen nicht nur auf ein Menschenleben, sondern auf Millionen haben und gerade deswegen nicht vergessen werden sollten. Um genau jene Zeiten dreht sich Sasha Filipenkos fünfter und nun von Ruth Altenhofer ins Deutsche übersetzte Roman, welcher in Russland und Weißrussland nur wenig Aufmerksamkeit erhielt, wird die schwierige Vergangenheit dort doch noch häufig verdrängt.  

Rote Kreuze führt die LeserInnen ins Minsk der beginnenden 2000er, wo Alexander, auch Sascha genannt, zusammen mit seiner 3 Monate alten Tochter versucht, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. An seiner mit einem roten Kreuz versehenen Wohnungstür lernt er Tatjana Alexejewna kennen, 91 Jahre alt, gewitzt und an beginnendem Alzheimer leidend. Zur besseren Orientierung hat sie das Kreuz an Saschas Tür gezeichnet, ein Symbol, welches auf vielfältige Weise ihr Leben durchzieht. Sie wehrt sich aktiv gegen das unausweichliche Vergessen und beginnt daher gleich nach der ersten Begegnung, Sascha ihre „Biografie der Angst“ zu erzählen – und gewährt damit einen Einblick in den roten Terror der Stalin-Ära, in die Grausamkeit der Sowjetunion im 20. Jahrhundert und in Auswirkungen eines Personenkultes auf die Gegenwart.

Dass Tatjanas Schicksal die LeserInnen in einen besonderen Bann zieht, liegt nicht nur an ihrem sympathisch positiven Charakter oder ihrem erschütternden, mitreißenden Lebensverlauf, der die Willkür der sowjetischen Regierung aufzeigt – darunter die erzwungene Entscheidung zwischen Familie und Staat, die Verhaftung durch den russischen Geheimdienst, Misshandlungen, das Leben im Gulag-Lager. Filipenko verbindet auf simple, aber wirkmächtige Art Fiktion mit Geschichte, indem er Tatjana für das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten als Fremdsprachensekretärin arbeiten lässt. Hier kommt sie mit originalem Schriftverkehr wie dem des Internationalen Roten Kreuzes in Kontakt, der im Text zitiert wird und den Filipenko im Genfer Archiv einsehen konnte. Gerade diese Briefe und Schriften lassen das Gelesene erschreckender wirken. Ihre volle Geltung erlangen sie aber erst durch den einsetzenden Perspektivwechsel, der die LeserInnen zwar von Tatjana distanziert, aber gleichzeitig eine Nüchternheit erzeugt, welche die kalte Wahrheit umso mehr in den Mittelpunkt rückt.

Ein Dämpfer wird dem Roman allerdings durch den rein fiktiven Teil rund um Sascha verpasst. Neben Tatjana bleibt er farblos und kaum greifbar. Auch sein Schicksalsschlag, beginnend bei Liebe auf den ersten Blick über die tödliche Krebserkrankung seiner Frau und schließlich der Geburt seiner Tochter nach Erlanger-Baby-Art, hilft dabei nicht, ihn den LeserInnen näher zu bringen. An dieser Stelle wäre weniger mehr gewesen, wirkt seine Geschichte doch eher überzeichnet und spielt noch dazu im weiteren Verlauf fast keine Rolle. Genauso mutet die plötzliche Beziehung zwischen Sascha und der jungen Nachbarin Lera überstürzt an – heilende Wirkung von Austausch und Verständnis hin oder her. Schade, dass diese Seiten nicht für die sich anbahnende Freundschaft zwischen den ProtagonistInnen verwendet wurden, die leider zu oberflächlich, knapp und schnell abgehandelt wird.

Dabei wird klar, der Fokus liegt gerade nicht auf diesen Abschnitten. Er liegt auf Tatjanas Schicksal, stellvertretend für das von Millionen und diese Erzählung ist gelungen. Sie beschreibt nicht nur eine mitreißende Geschichte, sondern einen Teil Geschichte und erinnert daran, wie wichtig das Aufarbeiten und wie falsch das in Russland und Weißrussland weitverbreitete Verdrängen sowie Verschweigen der Vergangenheit ist. 

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2021 entstanden sind und gesammelt in der Septemberausgabe 2021 erscheinen.

Titelbild

Sasha Filipenko: Rote Kreuze.
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer.
Diogenes Verlag, Zürich 2020.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071245

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