Apotheker, Journalist, Schriftsteller und Familienmensch

Regina Dieterles große Biographie über Theodor Fontane

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Mann schrieb zum 100. Geburtstag Theodor Fontanes im Berliner Tagblatt vom 25. Dezember 1919: „Eine Romanbibliothek der rigorosesten Auswahl, und beschränkt man sie auf ein Dutzend Bände, auf zehn, auf sechs, – sie dürfte ‚Effi Briest‘ nicht vermissen lassen.“ Hundert Jahre später ist anlässlich des 200. Geburtstags eine wahre Bücherflut hereingebrochen, lauter Werke, die sich mit dem Leben und Werk des berühmten Autors befassen. Darunter ragen einige Neuerscheinungen ganz besonders hervor, so die große Biographie von Regina Dieterle, die auf ungefähr 800 Seiten das Leben des Apothekers, Journalisten, Schriftstellers, Lyrikers und Familienmenschen entfaltet. In politischer Hinsicht, so heißt es bei einem anderen preußischen Schriftsteller, Günther de Bruyn, sei Theodor Fontane ein eher „unsicherer Kantonist“ gewesen; dessen „wetterwendisches Leben bietet ideologisch Einäugigen, moralischen Rigoristen und Heldenverehrern keinen erhebenden Anblick, war aber, mit all seinen Wendungen und Brüchen, wohl Voraussetzung für das Werk.“ In Regina Dieterles Biographie erfahren wir über diesen „unsicheren Kantonisten“ viel, vor allem, dass nicht alles, was der Autor Fontane seinen Figuren an Einstellungen und politischen Ansichten zuschreibt, mit seinen eigenen identifiziert werden darf. Eigentlich eine Binsenweisheit, die jedem Literaturwissenschaftsstudent schon im ersten Semester beigebracht sein sollte und die doch immer wieder in den Feuilletons, Essays und Büchern heutiger Autoren ignoriert wird.

Die Biographin erzählt aus einer „doppelten Perspektive“, „einer Perspektive, die nicht nur das Leben, sondern gleich auch das Werk in den Mittelpunkt rückt. Was hat Theodor Fontane berühmt gemacht? In erster Linie seine Romane. Zuerst also den Roman auf den Tisch, und nicht irgendeinen, sondern den ersten. Was ist sein Stoff? Der Zufall will es – aber vielleicht ist es kein Zufall –, dass Zeit, Ort, Handlung sofort in die Jugendjahre der Eltern führen.“ Der Roman wird viel später Vor dem Sturm heißen. Neben dem dichterischen Werk beschäftigt sich Dieterle auch mit den Reiseberichten, Kriegstagebüchern, Theaterkritiken und den Briefen Fontanes und schildert detailliert, wie Fontane von früh an Plots für seine späteren Romanhandlungen sammelte.

Zuerst werden die Schlüsseljahre der Großeltern und Elterngeneration von 1780 bis 1819 beschrieben, dann die Kinder- und ersten Jugendjahre von 1819 bis 1832. Henri Théodore Fontane wird am 30. Dezember 1819 in Neuruppin als Sohn des Apothekers Louis Henri Fontane und seiner Ehefrau Emilie geboren. Die Eltern waren hugenottischer Herkunft. Es folgen die Schuljahre in Neuruppin und Berlin und die Berliner Lehrlingsjahre. Auf der Basis jahrelanger Recherchen und Forschungsaufenthalte in Berlin und Brandenburg erzählt die Autorin die Biographie Fontanes. Sie schildert, wie all die Facetten seines produktiven Lebens in seine großen Romane eingegangen sind, sei es in Effi Briest, Der Stechlin oder Irrungen, Wirrungen.

Sie beleuchtet dabei nicht nur die einzelnen Lebensetappen, sondern auch das journalistische und schriftstellerische Werk: der Schriftsteller als Korrespondent und Presseagent in London und Berlin und als Wanderer und als Redakteur der konservativen Presse in den Jahren 1859 bis 1863.

Dieterle analysiert dezidiert und mit großem erzählerischen Vermögen, warum gerade die Kriegsbücher einen großen Raum neben den Romanen einnehmen, denn die Bismarck‘schen Kriegsjahre haben Leben und Schreiben Fontanes bestimmt: der Schriftsteller als Kriegsjournalist und werdender Romancier, bald dann „Fontanes Wende“ mit seiner Beendigung der Redaktionsarbeit bei der Kreuzzeitung, seine erneuten Wanderungen in das Ruppin’sche und seine Tätigkeit als Theaterkritiker für die Vossische Zeitung. Der Autor emanzipiert sich und wird zum großen europäischen Schriftsteller der jungen Moderne. Es erscheinen die Spätwerke wie Der Stechlin oder Die Poggenpuhls und etliche lyrische Dichtungen..

Von Zwanzig bis Dreissig ist das letzte Werk, dessen Veröffentlichung Fontane noch erlebt. Regina Dieterle nimmt eine sprachliche Anleihe aus Goethes Dichtung und Wahrheit, wenn sie schreibt, dass man diese Autobiographie getrost als „Bruchstücke einer großen Konfession“ lesen könne. Allerdings habe der alte Fontane den jungen zurechtgemodelt. Der junge Fontane war „kecker, forscher, libertinärer“, als der alte ihn erzählt. Die Romane und ihre Charakterstudien zeugen davon, in ihnen sei wohl eher der „ganze Fontane“ zu finden: „Aber nicht das ganze Werk, dieses weite Feld“.

Am Abend des 20. September 1898, „9 Uhr“, stirbt Theodor Fontane an einem Herzschlag. Seine Tochter Martha schreibt am 26. September an Paul Heyse: „Er war heiter und ohne jede Vorahnung seines Endes. Nur über zunehmende Müdigkeit klagte er und seine 34 Pulsschläge waren seine letzte Lieblingswendung geworden.“

Durch die wechselseitigen Perspektiven auf die Arbeitsweisen des Autors werden von Regina Dieterle die engen Verbindungen des journalistischen und literarischen Werks sichtbar gemacht. In den vielen Wechselfällen seines Lebens und seiner risikobereiten Entscheidung, den Beruf als Apotheker aufzugeben und allein als Autor sein Geld zu verdienen, stand dabei seine Ehefrau Emilie stets fest an seiner Seite und „gab ihm Halt“, wie seine Biographin an zahllosen dramatischen Lebensereignissen zeigt. Schon in ihrem 2006 erschienenen Porträt Die Tochter – Das Leben der Martha Fontane zeichnete Dieterle ein fragiles Frauenleben der Zeit: den Liebling des Vaters, ein begabtes Kind, das bald zu seinem „Angstkind“ werden sollte. Gleichzeitig entwirft sie ein genaues Bild der Bismarckzeit, in der eine kapriziöse und sensible Tochter zur „Vatertochter“ stilisiert wurde und letztlich an ihrer Rolle und an ihrem Leben zerbrach. Das literarische Alter Ego der Tochter findet sich in Fontanes spätem Roman Frau Jenny Treibel. Auch die große Biographin berühmter Gestalten der Goethezeit Dagmar von Gersdorff hat sich des Lebens der Tochter Martha in ihrem instruktiven Buch Vaters Tochter – Theodor Fontane und seine Tochter Mete angenommen. Mete wird als kluge und selbstbewusste Frau geschildert. Im Alter von zehn Jahren wurde sie bereits nach London geschickt, um dort die englische Sprache zu erlernen. Als Hauslehrerin reiste sie alsbald mit einer reichen Familie durch Frankreich und Italien. Einen Bräutigam fand sie erst spät, er war wohlhabend und naturgemäß ein Freund des Vaters. Sie blieb auch bei dieser Wahl dem Vater verbunden. Mit 56 Jahren beging Mete nach dem Tod des Ehemannes, den sie aufopferungsvoll bis zuletzt gepflegt hatte, Suizid. Ein Nachruf auf sie stammt vermutlich von ihrem älteren Bruder Theo. Ihr Glück hatte sie auf dieser Welt nicht gefunden.

War Fontane ein Antisemit?

In seinem neuen Buch Theodor Fontane. Realismus. Redevielfalt. Ressentiment beschäftigt sich Norbert Mecklenburg mit dem Antisemitismus Fontanes, der auch in neuen Darstellungen und Biographien zu Fontane entweder ignoriert oder heruntergespielt werde. Auch Regina Dieterle husche auf vier von 800 Seiten ihrer neuen Biographie am Antisemitismus Fontanes schamvoll vorbei. „Antisemitischen Impulse“, so Mecklenburg in einem mündlichen Beitrag zum 54. Pankower Waisenhausgespräch im Oktober 2019, dessen Text hier in einer überarbeiteten Fassung wiedergegeben wird, „sind keine bedauerlichen Ausrutscher, sondern häufen sich gerade in den Jahren und Werken, in denen der Autor auf den Höhepunkt seiner Kunst gelangte.“ Weiterhin heißt über die Umsetzung dieser „Impulse“ in Literatur: „Auch daran zeigt sich seine meisterhafte Erzählkunst als eine Kunst der ,Finessen‘, das heißt der Indirektheit, der Anspielung, des Versteckspiels. In seinen Erzählwerken lassen sich, im Unterschied zu Gedichten, antisemitische Impulse allerdings niemals als direkte Meinungskundgaben des Autors, vielmehr immer nur indirekt an der Darstellung jüdischer Figuren und an Äußerungen von Figuren über Juden beobachten.“ Antisemisch sind diese Impulse, die einer negativen Einstellung gegenüber „den“ Juden entspringen, so Mecklenburg.

Regina Dieterle behandelt in ihrer Fontane-Biographie das Thema das Antisemitismus unter der Textüberschrift „Papa … schimpft mehr wie schön ist auf die Juden“, einem Satz seiner Tochter Martha, auf den Seiten 591 bis 595 und schreibt: „Tatsächlich wurden bösartige Vorurteile gegenüber Juden nach 1879 in weiten Kreisen etwas Selbstverständliches. Denn es wurde opportun, in den jüdischen Mitbürgern Zeitphänomene wie den Großkapitalismus, den linken Liberalismus, den Freigeist als etwas Undeutsches zu bekämpfen“. Die antisemitische Strömung in Berlin habe in Berlin wortmächtige Redner im evangelischen Hofprediger Adolf Stoecker und dem Historiker und nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Heinrich von Treitschke gefunden, der auch an der Universität lehrte. Dieterle weist darauf hin, dass Fontane zwar viele jüdische Freunde hatte. Sie betont aber auch, es ließe sich ein ganzes Buch mit brieflichen Äußerungen Fontanes zusammenstellen, in denen „Fontane sich abfällig bis zur Infamie über seine jüdischen Zeitgenossen aussprach“. Die Familie beurteilte diese „antisemitischen Ausfälle“ als „Nervenpleite“, als Ausdruck wechselnder Stimmungen. Fontane fasste den Plan, so die Biographin,  einen Essay mit dem Titel Das Judentum und die Berliner Gesellschaft zu schreiben. Er wollte ihn, so seine Formulierung, „ziemlich anti-adlig und judenfreundlich“ abfassen. Er ließ den Plan wieder fallen und es blieb beim Entwurf. Zum Schluss ihrer Ausführungen zur Frage, ob „antisemitisches Stimmengewirr“ auch in die Romane Fontanes Eingang gefunden haben, lässt sie die Antwort offen, schreibt aber: „zum Ausdruck brachte er ein antisemitisches Vorurteil zuweilen in subtiler Figurenrede, in Gesprächsszenen wie auf der Bühne, wo der Autor hinter seine Figuren zurücktritt.“ Wie solle man dabei, fragt Dieterle, etwa die „Rolle von Vater und Sohn Hirschfeld verstehen (Der Stechlin), die Schloss Stechlin in ihrem Gefährt umkreisen und dabei – wie sogenannte ‚Häuserjuden‘ – auf den Bankrott des alten Dubslav von Stechlin hoffen? Die Leserin, der Leser ist gefordert.“ Dieterle, die bereits in ihrer Biographie über Fontanes Tochter Martha über antisemitischen Äußerungen Theodor Fontanes geschrieben hat, belässt es jedenfalls nicht bei Beschwichtigungen und huscht nicht schamvoll über Fontanes antijüdische Ressentiments hinweg. Das nimmt jedoch der wichtigen Studie von Norbert Mecklenburg insgesamt nichts von ihrer Bedeutung.

Titelbild

Regina Dieterle: Theodor Fontane. Biografie.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
832 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260351

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