Weit mehr als Gedanken und Gefühle einer Heranwachsenden

Das Tagebuch von Anne Frank ist weltberühmt – zum 90. Geburtstag der Autorin liegt nun die unvollendete Romanfassung ihrer Aufzeichnungen als eigenständiges Werk auf Deutsch vor

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nach dem Krieg möchte ich unbedingt ein Buch mit dem Titel ,Das Hinterhaus‘ herausbringen“, notierte Anne Frank am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch und gesteht der imaginären Freundin Kitty ihren „hochtrabenden“ Wunsch, später einmal Journalistin oder Schriftstellerin zu werden. Doch Annes Hoffnung erwies sich als trügerisch: Am 4. August wurde in einer Polizeiaktion ihr Versteck in der Amsterdamer Prinsengracht 263 ausgehoben, alle acht Untergetauchten sowie die beiden Geschäftsführer der dortigen Firma wurden festgenommen. Anne Frank starb im Februar 1945, nur wenige Monate vor Kriegsende, 15jährig im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Fleckfieber. Von ihrer Familie überlebte allein ihr Vater, Otto Frank. Dieser erhielt von ihren todesmutigen Helfern Miep Gries und Bep Voskuijl nach Kriegsende die Tagebücher und Blätter mit Aufzeichnungen seiner Tochter überreicht, die diese nach der Festnahme auf dem Fußboden fanden.

Bereits 1947 sorgte Otto Frank für deren Veröffentlichung. Freilich, nicht ohne daran Hand anzulegen. Aus zwei verschiedenen Textfassungen erstellte er eine neue, eigene Version. Erst nach seinem Tod im Jahr 1980 wurden alle Aufzeichnungen Annes wissenschaftlich gesichtet, sodass es seit 1986 auf Niederländisch, dann 1988 auf Deutsch eine neue, vollständige historisch-kritische Ausgabe der Tagebücher gibt. Mirjam Pressler hat diese Fassung bekanntlich gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern kundig ediert: Im Paralleldruck befinden sich darin die spontanen Notizen als Version A, die gründliche Überarbeitung als Version B und der vom Vater editierte Text als Version C. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dieser Edition nichts hinzuzufügen, stellt diese doch alle Textvarianten komplett dar. Warum dann also nun eine neue Ausgabe allein mit Version B? Bei der jetzigen Veröffentlichung, 75 Jahre nach Anne Franks Tod, geht es gewiss nicht um neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Vielmehr soll damit ihr oben genannter sehnlicher Wunsch in Erfüllung gehen: Der fragmentarisch gebliebene Roman Das Hinterhaus wird als solcher einer breiten Leserschaft zugänglich.

Ab dem 20.5.1944 hatte sich Anne fieberhaft ans Werk gemacht, um ihre bisherigen Tagebuch-Aufzeichnungen tatsächlich zu einem Briefroman umzuarbeiten. Sie wollte, dass mehr daraus wird als das spontane Spiegelbild der Gedanken und Gefühle einer Heranwachsenden. Ihr Ansinnen war es, ein Stück Literatur zu schaffen: „In meinem Kopf ist es schon so weit fertig, aber in Wirklichkeit wird es längst nicht so schnell gehen, wenn es überhaupt je fertig wird“. Damit traf sie tragischerweise den Nagel auf den Kopf. Denn trotz aller Anstrengungen, mit der sie das Geschriebene auf 215 Seiten einer gründlichen Überarbeitung unterzog, kam sie bis zu ihrer Verhaftung nur bis zum 29. März 1944. Doch auch wenn das Manuskript ebenso zu früh endet wie Annes Leben selbst, weckt es bei aller Trauer über ihr Schicksal dennoch Genugtuung und Freude, dass ihre Aufzeichnungen nun auch in ihrer literarischen Qualität gewürdigt werden. Insbesondere wenn man bedenkt, dass hier ein sehr junges Mädchen als Autorin am Werk war, kann man nicht anders, als ihr eine ausgesprochen gute Beobachtungsgabe, die Fähigkeit zur Selbstreflektion, kompositorisches Geschick und einen ausgeprägten Sinn für Humor zu bescheinigen. Anschaulich, lebhaft und nachvollziehbar vermittelt sie so die vielen alltäglichen Erlebnisse im Versteck, dessen schwierige Personenkonstellationen und die emotionalen Höhen und Tiefen, die mit der Situation verbunden waren.

Hierbei sei auch die Übersetzung gelobt, in der Waltraud Hüsmert sich sehr sensibel der Aufgabe stellte, den Text im Spannungsbogen zwischen Belletristik und Zeitgeschichte zu verorten. Das ist schließlich, wie sie selbst in ihren Erläuterungen konstatiert, eine Frage von „entscheidenden Einfluss auf die Übersetzungsstrategie“. Sie kommt dabei, ebenso wie Laureen Nussbaum, die als Literaturprofessorin und frühere Freundin von Annes älterer Schwester Margot die Veröffentlichung des Buches betrieb, zu dem Schluss, dass man Anne Frank durchaus als Schriftstellerin sehen muss – gleichzeitig aber nicht die besonderen Umstände der Entstehung ihrer Texte vergessen darf. Demgemäß erstellte sie die Übersetzung in Abstimmung mit den Experten des Anne-Frank-Hauses.

Der Edition von Das Hinterhaus sind hilfreiche Texte voran- und nachgestellt, die wertvolle Hintergrundinformationen zur Autorin und zur Entstehungsgeschichte des Buches liefern. Das umfasst ein Vorwort von Ronald Leopold, dem Direktors des Anne-Frank-Hauses; die Anmerkungen der Übersetzerin sowie ein Essay der Literaturwissenschaftlerin Laureen Nussbaum. Ergänzt wird das Ganze von einem kleinen Glossar mit wichtigen Begriffen. Wer also kein Interesse hat an der wissenschaftlichen Gegenüberstellung der verschiedenen Textvarianten, sondern einfach mehr wissen will über Anne Franks Leben und ihr literarisches Können, dem sei Liebe Kitty aus dem Secession Verlag ans Herz gelegt.

Titelbild

Anne Frank: Liebe Kitty. Ihr Romanentwurf in Briefen.
Aus dem Niederländischen von Waltraut Hüsmert.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2019.
208 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783906910628

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