Klima, Kriege, Katastrophen

Peter Frankopan erzählt die Menschheitsgeschichte in seinem monumentalen Werk „Zwischen Erde und Himmel“ aus ökokritischer Perspektive

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

War in unserer Schulzeit Geschichte nicht ein Feld großer Männer und europäischer Weltreiche? Eine Abfolge von Kriegen, Revolutionen und Allianzen? Seitdem gab es in den Geschichtswissenschaften zahlreiche Paradigmenwechsel. Hatte nicht schon Walter Benjamin den Tigersprung in die Geschichte gefordert, eine Umschreibung großer Ereignisse von untern? Hayden White hat die Konstruktionen des Historismus noch grundlegender als Narrationen entlarvt, angelehnt an Textstrategien fiktionaler Werke. Feministische Geschichtsschreibung und zuletzt das neue Interesse an der Weltgeschichte, die Europa dezentriert, haben nicht nur unsere Vorstellung der Vergangenheit und ihres Ablaufs, sondern auch Ideen menschlicher Zeitrechnung grundsätzlich in Frage gestellt.

Dennoch scheint mir die innovative Kraft, Klimageschichte und Menschheitsgeschichte enger zusammenzudenken, der auch Peter Frankopans Studie geschuldet ist, der weitaus bedeutsamste Paradigmenwechsel. Hier werden nicht andere Kollektive fokussiert, andere Schichten in den Fokus gerückt, andere Konstellationen beleuchtet, sondern ganz grundlegend die geschichtsbildende Kraft der Menschheit stark relativiert. In ganz fundamentalen Bereichen haben wir (im Sinne eines universalen Menschheits-Wir) nicht die Erde gestaltet, sondern die Erde uns und unsere Entwicklungsmöglichkeiten.

Dabei ist das Masternarrativ so verlockend: Von Gott oder welchen Mächten auch immer auf die Erde gesetzt, verbreitet der Mensch sich über alle Kontinente und lernt in wachsendem Maße durch seine technische-rationale Vernunft, sich die Erde urbar zu machen und den Schrecken der Natur zu zähmen – schließlich gar, sie sich dienstbar zu machen. Und es ist im Angesicht globaler Umweltkatastrophen, welche menschliche Habitate verwüsten, schon fast ironisch, dass während des kalten Krieges die Chefideologen im Weißen Haus und im Kreml noch davon ausgingen, das Klima in nicht allzu ferner Zukunft nach Belieben und auf Knopfdruck steuern zu können. So maßlos war erdgeschichtlich gesehen noch vor wenigen Augenblicken das Vertrauen des Menschen in seine historische Rolle als gottgleicher Gestalter der Welten – die Raumfahrt ließ schon von der Kolonisation ferner Sterne träumen; für manche heute noch eine konsequente Option. Peter Frankopans voluminöses Werk lehrt einen von der ersten bis zur letzten Seite Demut vor den gewaltigen Kräften des Planeten, die wir so leichtfertig entfesseln.

Aber was bietet Frankopans Studie und wie liest sie sich?

Tatsächlich möchte der Historiker den ganz großen Überblick liefern und startet seine Klimageschichte 4,5 Milliarden Jahre vor Christus mit der Entstehung der Erde. Gleich einleitend hält er fest, dass die Zeit, die wir durch menschliche Berichte halbwegs seriös rekonstruieren können (etwa 5.000 Jahre), nur 0,000001% der Erdvergangenheit ausmacht. Berücksichtigt man dann noch, dass das Anthropozän in der Geologie zwischen 1800 und 1950 verortet wird (je nach Argumentationsmuster), wird endgültig deutlich, wie geradezu lächerlich kurz der Zeitraum ist, in dem wir die Erdgeschichte geprägt haben. Trotz der überdeutlichen Relativierung der menschlichen Anspruchshaltung und Selbstwahrnehmung liefert Frankopan niemandem ein Argument, der nun den menschengemachten Klimawandel mit dem Hinweis relativieren möchte, es habe schon immer gravierende Klimaveränderungen auf dem Planeten gegeben, was wir derzeit erleben, sei die Regel und nicht die menschlich verursachte Ausnahme.

Allerdings, die Erdgeschichte ist eine Geschichte radikaler Klimaveränderungen. Etwa das Große Sterben zwischen Perm und Trias, hauptsächlich ausgelöste durch gewaltige Vulkanausbrüche im heutigen Sibirien. In der Folge der daraus resultierenden Klimaereignisse sterben 96% aller Meerestiere, 75% aller Landtiere und alle Wälder der Erde. Alle Wälder. Punkt. Das ist nicht einmal das berühmte Sterben der Dinosaurier. Da liegt man fast 200 Millionen Jahre daneben, aber die Zeitalter vor dem Menschen erscheinen dem Laien wie ein ungeordneter und in seinem endlosen Zeitmaß geradezu zeitloser Haufen uninteressanter Geschichte (ist es ohne den Menschen überhaupt Geschichte?). Vor dem Aussterben der Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren gibt es sogar noch ein weiteres Massensterben ‒ und vor dem Großen Sterben am Ausgang des Perms gab es schon zwei andere Klimaereignisse, welche die Diversität des Planeten nachhaltig schädigten. Daher sprechen wir derzeit vom sechsten Massensterben. Während ein Vulkanausbruch auch noch die sogenannte Kleine Eiszeit zwischen 16. und 19. Jahrhundert mitverursacht hat und das Jahr ohne Sommer 1816 maßgeblich durch einen Vulkanausbruch bedingt war ‒ und vielleicht einen nicht unerheblichen Einfluss auf die düstere Stimmung von Mary Shelleys Frankenstein hatte ‒, gibt es für den Klimawandel ebenfalls sehr deutliche und sehr gut erforschte Ursachen, die allesamt auf das ausbeuterische Verhältnis der Gattung Mensch zu dem Planeten Erde zurückzuführen sind. So ist ein wichtiges Resümee des Buches, dass bisherige Klimaereignisse ‒ welche die Menschheit angingen ‒ lokal begrenzt waren und nie den gesamten Planeten betrafen. Der Klimawandel allerdings ist eindeutig ein globales Phänomen: „Auf 98 Prozent der Erde war das 20. Jahrhundert das wärmste der vergangenen zwei Jahrtausende.“

Auf knapp 850 Seiten bietet Peter Frankopan in vierundzwanzig Kapiteln eine weltgeschichtlich orientierte Darstellung der wechselseitigen Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt (nur das erste Kapitel erzählt die Geschichte des Weltklimas vor homo sapiens). Fast 150 eng bedruckte Seiten im Blocksatz als Anmerkungsapparat geben einen Eindruck davon, wie fundiert die Darstellung ist. So reibt Frankopan sich an ihm zufolge vereinfachenden Darstellungen der Umweltzerstörung etwa in Jared Diamonds bekanntem Werk Kollaps. Hatte Diamond z.B. den Untergang der Kultur auf den Osterinseln recht monokausal auf die Abholzung der Insel bezogen, breitet Frankopan stets ein sehr umfassendes Bild aus natürlichen Klimaeinflüssen, menschlichen Einwirkungen, Epidemien und Konflikten aus, worin das Handeln der Kulturen nur eine ‒ oft kleine ‒ Teildimension ausmacht. Während sich für den Laien die Kritik an Diamond nicht sicher beurteilen lässt (auch Diamond bezieht sich auf zahlreiche Quellen für seine Analysen), muss Frankopans Studie im Direktvergleich zumindest der Vorwurf der Unübersichtlichkeit gemacht werden. Während Diamond sich auf einige exemplarische Ereignisse konzentriert, die er umfassend vorstellt, ist für Leser*innen bei Frankopan die Darstellung in ihrer Breite oft schwer nachzuvollziehen. Auf einer Seite springt Frankopan schon einmal von Ereignissen in Peru, über Vorkommnisse in afrikanischen Ländern bis hin zu vergleichbaren Situationen im fernen Asien, wobei er gerne hundert Jahre in einem Absatz überspringt. Der weltgeschichtliche Anspruch führt hier teilweise zu einer Quellenorgie, die nach ausführlicheren Einzeldarstellungen verlangt. Doch gerade die Einzeldarstellung will Frankopan wohl erwogen vermeiden, da er die globale Dimension historischer Ereignisse in den Blick nehmen möchte ‒ von El Niño Ereignissen bis zu Grippewellen, von der Pest bis zum Rad, von der Domestizierung von Haustieren bis zur Impfung von Wolken; und immer wieder Vulkanausbrüche. Ein darstellungsökonomisches Dilemma?

Zu einem guten Teil ist dieses Problem der Lektüreerwartung geschuldet, Geschichte erzählt zu bekommen. In einem Setting mit Hauptdarstellern, Handlungsverläufen und menschlichen Werten. Das Klima ist ein schlechter Hauptdarsteller ‒ es hat kein Motiv, es ist völlig indifferent, es ist moralisch uninteressant. Immer wieder gerät Frankopans Darstellung daher auf Nebenwege, die mit konventionellen Erwartungen besser harmonieren. Den transatlantischen Sklavenhandel in seiner unfassbaren Grausamkeit darzustellen, lässt sich nur teilweise damit begründen, hier einen Mentalitätswechsel zu einer ausbeuterischen Haltung gegenüber der Welt und ihren Ressourcen auf brutale und menschenverachtende Weise realisiert zu sehen.

Je näher die Darstellung der Gegenwart rückt, desto nachvollziehbarer wird sie. Einerseits, weil wir uns historisch auf gut bekanntem Terrain bewegen und sich neue Informationen besser einordnen lassen, andererseits, weil die menschliche Einwirkungen auf die Umwelt immer maßloser und gefährlicher werden: Sowjetisches Missmanagement führt mit der Bewirtschaftung des Aralsees eine der größten Umweltkatastrophen der Neuzeit herbei. Mao lässt in seinem Kampf gegen die vier Plagen 1959 Milliarden von Spatzen ermorden, da diese im Verdacht stehen, die Ernte zu vernichten. Als zynisches Lehrstück über menschliche Hybris ist die darauffolgende Insektenplage mitverantwortlich für die größte Hungerkatastrophe in der Geschichte der Menschheit in der wohl über 50 Millionen Menschen starben ‒ ein Ereignis, das im Westen weitgehend unbekannt ist! Natürlich plante das Pentagon, die Manipulation des Klimas als Kriegswaffe einzusetzen, was im Vietnamkrieg nicht nur nachweislich versucht wurde, sondern sogar teilweise erfolgreich war ‒ wenn auch die übrigen Versuche ebenso gescheitert sind, wie die maßlose Hoffnung, das Wetter auf Knopfdruck kontrollieren zu können.

In den letzten Kapiteln helfen die zähen und zahllosen Seiten über den Aufstieg und Fall hunderter Kulturen vom Beginn der Menschheitsgeschichte bis in die Neuzeit, etwas zu verstehen: In vergangenen Jahrhunderten waren die Menschen unmittelbar von ihrer lokalen Umwelt abhängig und entgegen eines so hartnäckig transportierten Geschichtsbilds einer irgendwie linearen Menschheitsgeschichte, war der Normalfall kultureller Entwicklung der Untergang. Wer zu viel Holz schlug, litt unter der Erosion, wer in fetten Jahren nicht vorsorgte, wurde in schlechteren Phasen Opfer von Hungerkatastrophen und Epidemien. Oft traf es große, mächtige Reiche unerwartet und hart und gegen alle Erwartungen ging der Niedergang schnell. Das Klima war oftmals nur noch ein Teilelement verschiedener Fehler und Misswirtschaft ‒ nicht nachhaltiger Umgang mit Ressourcen hat Gesellschaften schon immer in existentielle Not getrieben.

Gegenwärtig steuern wir auf eine Zeit zu, in der das Klima die Hauptursache werden wird. Wir sehen es. Wir wissen es. Und wir bleiben handlungsunfähig. Das Klima ist nicht nur ein schlechter Protagonist, sondern auch ein schlechter Antagonist. Auch Frankopan endet in einem Panoptikum deprimierender Zahlen: dass die Raubfischbestände durch den industriellen Fischfang um 90 Prozent dezimiert wurden, dass die Eisschmelze seit den 1990er Jahren so stark war, „dass sich die Erdachse durch die Umverteilung des Wassers verschoben hat“ und der Punkt ohne Wiederkehr für weiteren Eisverlust bereits überschritten ist ‒ und fast endlos so weiter, dass man nicht mehr an Benjamins Tigersprung denken kann, sondern an den Engel der Geschichte, der die hinter ihm liegende Zeit als Anhäufung von Katastrophen sieht. Hinzu kommen bekanntere Plagen wie invasive Arten, die negativen Auswirkungen der Hitze auf den menschlichen Organismus, die traurige Geschichte politischer Handlungsunfähigkeit, protokolliert auf den Weltklimakonferenzen; aktuell ‒ 2023 ‒ von dem CEO eines der größten Erdölkonzerne der Welt geleitet! Viel Geld wurde gesammelt, viele Versprechungen gegeben ‒ unverbindlich, versteht sich.

Zuletzt ein längeres Zitat aus einem umfassend recherchiertem Buch, das entgegen des Hoffnungsschimmers der meisten Darstellungen zum Thema mit seinem breiten Blick die Befürchtung teilen lässt, dass dies ein Problem ist, dass wir nicht in den Griff bekommen werden:

Recht behalten wird unterm Strich der britische Rechnungshof, der unlängst meinte, die Lösung des Klimaproblems sei ganz einfach: Am Ende werde nicht der Mensch, sondern die Natur die Nettoemissionen auf null bringen. Sie tut dies mit einer katastrophalen Entvölkerung, ob durch Hunger, Seuchen oder Krieg. Wenn dann weniger Menschen fossile Brennstoffe verfeuern, Wälder abholzen und Rohstoffe ausbreiten, wird der menschliche Fußabdruck drastisch schrumpfen, und wir kommen dem nachhaltigen Paradies unserer erträumten Vergangenheit näher. Vielleicht gelingt uns dies mit friedlichen Mitteln ‒ ein Historiker würde allerdings nicht darauf wetten.

Nun kann man müde abwinken: Mal wieder eine malthusianische Untergangsgeschichte. Man übersieht dabei, dass die Zeichen katastrophalen Niedergangs in der globalen Umwelt bereits Fakt sind. Keine Hypothese, keine Hochrechnung, keine kulturelle Projektion, keine ideologische Phantasie und auch besonders keine religiöse Erwartung. Was uns wahrscheinlich wiederum daran stört und uns hindert, viel vehementer zu agieren, ist nicht nur unser Wohlstandsdenken. Es ist auch das narrative Problem: Der Klimawandel ergibt keinen Sinn. Dass die Welt ein menschenfeindliches Habitat wird, ist unvorstellbar, weil es für all unsere Zukunftsprojektionen sinnlos ist. Mit der Idee einer sinnlosen Welt zu leben, fällt uns aber schwer. Wieso wohl gewinnen weltweit dubiose Gestalten Wahlen, wenn sie nur eine Geschichte von Sicherheit, Stärke und Herkunft zu erzählen wissen. Denn wie schon der Philosoph Odo Marquardt wusste: Zukunft braucht Herkunft. Wir aber kommen aus einem intergalaktischen Zufall, sind Getriebene einer überwiegend unkontrollierbaren Umwelt und werden nach diesem kurzen Gastspiel wieder verschwinden in dem Abgrund der Bedeutungslosigkeit, dem wir entstiegen sind. Nicht schön, aber wahrscheinlich. Immerhin ist es damit wieder eine Geschichte von Aufstieg und Fall – kurz waren wir Götter.

Jetzt aber zurück zu Alltag und Arbeit, denn gemütlich sind Geschichten des Untergangs nur als Hintergrundrauschen.

Titelbild

Peter Frankopan: Zwischen Erde und Himmel. Klima – eine Menschheitsgeschichte.
Aus dem Englischen von Henning Thies und Jürgen Neubauer.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023.
912 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100984

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