Wer Sigmund Freud war, bevor er der wurde, der er sein wollte

Nach der Lektüre der Bände 3 und 4 der „Brautbriefe“ kann man die „Entwicklung des Helden“ besser denn je verstehen

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 17. Juni 1882 verlobten sich Sigmund Freud und Martha Bernays nach nur zweieinhalbwöchiger näherer Bekanntschaft – heimlich. Einige Monate später weihten sie auch ihre Angehörigen und Freunde ein. Ernest Jones schreibt: „Am letzten Tag des Monats Mai hatten sie, als sie Arm in Arm vom Kahlenberg herunterstiegen, ihr erstes Gespräch unter vier Augen“ (Sigmund Freud – Leben und Werk, Bd. 1). In der „Chronologie“, die den hier besprochenen Bänden (3 und 4) des Briefwechsels beigegeben ist, wird aus diesem ersten Tête-à-Tête das „erste ernsthafte Gespräch“, das die beiden miteinander geführt hätten. Es soll angeblich nicht am 31. Mai, sondern am 2. Juni stattgefunden haben. Wie dem auch sei, die Gegend um den Kahlenberg, von dem aus man einen traumhaften Blick auf Wien hat, war zukunftsweisend: Jahre später, am 24 Juli 1895, „wenige Tage vor dem Geburtsfeste meiner Frau“ (Martha Bernays wurde am 26. Juli 1861 geboren), hatte Freud in „einem einzelstehenden Hause auf einem der Hügel, die sich an den Kahlenberg anschließen“, den in der psychoanalytischen Literatur wohl am häufigsten reinterpretierten (sogenannten „Irma“-)Traum (Die Traumdeutung, Kap. 2). Das „einzelstehende Haus“ (Schloss Bellevue) wurde später abgerissen. Heute steht dort eine Gedenktafel, auf der man ein Zitat lesen kann, das einem Brief an Wilhelm Fließ entnommen wurde: „Hier enthüllte sich dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes.“

Auch die unmittelbaren Folgen des Spaziergangs des 28jährigen Sigmund Freud und der knapp 21jährigen Martha Bernays durch den Wiener Wald waren ‚ernsthafter‘ Natur: Als Freud erfuhr, dass seine Angebetete auch noch andere Verehrer hatte, raste er vor Eifersucht. Wenn er daran denke, so wird er später an die Braut schreiben, „verliere ich die Herrschaft über mich, und wenn ich die Macht besäße, die ganze Welt, uns mit einbegriffen, zu zertrümmern, um sie von neuem spielen zu lassen: auf die Gefahr hin, daß sie nicht wieder mich und Martha hervorbringt, ich täte es unbedenklich“ (Brautbriefe, Bd. 1). Soviel zur Ouvertüre einer Leidenschaft, die in der Folgezeit zu allerlei Verwünschungen, Anklagen, Forderungen, dann wieder zu Bitten um Versöhnung und neuen Liebesschwüren führen sollte.

Im Juni 1882 war die Welt in Wien für den eifersüchtig liebenden Freud, der keinen Dritten neben sich dulden wollte, allerdings noch halbwegs in Ordnung. Und wenn er sie wieder einmal aus den Angeln zu heben drohte, dann konnte seine Verlobte noch immer von Angesicht zu Angesicht über sein Herzeleid mit ihm sprechen. Das änderte sich im Juni 1883 dramatisch. Jetzt setzte Emmeline Bernays, die Mutter der Braut, ihren Entschluss, in die alte Heimat zurückzukehren, in die Tat um und nahm ihre beiden Töchter, Martha und Minna, mit nach Wandsbek (damals noch ein selbständiger Ort vor den Toren Hamburgs). Diese Entscheidung der Schwiegermutter in spe führte zur jahrelangen Trennung der Liebenden – und zu einer sich immer mehr steigernden Abneigung des Schwiegersohns in spe gegen die Brautmutter. Später wird Sigmund Freud, sein persönliches Schicksal verallgemeinernd, schreiben: „Es ist kaum zweifelhaft, daß in der psychologischen Situation von Schwiegermutter und Schwiegersohn etwas enthalten ist, was die Feindseligkeit zwischen ihnen befördert und ihr Zusammenleben erschwert“ (Totem und Tabu, 1912-13). Als Grund der „Feindseligkeit“ nennt er an dieser Stelle allerdings nicht die Konkurrenz um die Liebe der Tochter (Braut), sondern das (inzestuöse) Begehren, das rituell abgewehrt werden müsse.

 

Wandsbeker Marktstraße 1880
Heimatmuseum Wandsbek

Die Biographen aber sollen sich plagen

Am 28. April 1885 schreibt Freud an sein „teures Liebchen“, das er jetzt seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hat (und erst beim nächsten Besuch im September in Wandsbek wieder sehen wird) einen Brief, in dem er ihr, gefangen in tiefer Verstimmung, mitteilt:

Das war ein schlechter, unfruchtbarer Monat. Wie froh bin ich, daß er so bald zu Ende geht. Ich mache den ganzen Tag gar nichts […]. Ein Vorhaben habe ich allerdings fast ausgeführt, welches eine Reihe von noch nicht geborenen, aber zum Unglück geborenen Leuten schwer empfinden wird […]: es sind meine Biographen. Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit vierzehn Jahren […], wissenschaftliche Exzerpte und Manuskripte meiner Arbeiten vernichtet. […]. [A]lle meine Gedanken und Gefühle über die Welt im allgemeinen und, soweit sie mich betraf, im besonderen sind für unwert erklärt worden, fortzubestehen. Sie müssen jetzt nochmals gedacht werden, und ich hatte viel zusammengeschrieben. […] Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen‘s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ‚Entwicklung des Helden‘ recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden.

Bereits ein Jahr zuvor, am 5. April 1884, hatte Freud seiner Braut vorgeschlagen: „[…] unsern Briefwechsel, Schatz, den, mein ich, verbrennen wir an unserm Hochzeitstag, nicht wahr?“ Hätte Martha diesem Furor nachgegeben, wir wüssten nichts von den affektiven Stürmen, die der Mann, der später die Beherrschung des ‚Es‘ zur therapeutischen Conditio-sine-qua-non erklären sollte, während der Zeit der früheren Trennung zu überstehen hatte. Im Bild des Moses, das er entwarf, brachte er viele Züge seiner eigenen Persönlichkeit unter (das gilt auch für Freuds Interpretation des Norbert Hanold, des Helden in Jensens „pompejanischem Phantasiestück“ Gradiva, und für das Bild des Leonardo da Vinci, das er gezeichnet hat). In der 1914 – zunächst anonym – erschienen Schrift Der Moses des Michelangelo schreibt er: „Der Mann Moses war nach den Zeugnissen der Tradition jähzornig und Aufwallungen von Leidenschaft unterworfen.“ Dieser unbeherrschte Mann war ein Diener des Gottes, dessen erstes Gebot lautete: „Ich bin der HERR, dein Gott […]. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. […] Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott“ (2. Moses 20).

Die Beherrschung der Leidenschaften, das war eine Forderung, die ursprünglich Gottes Stellvertreter auf Erden, die Priester, mit der Androhung von Höllen- und Gewissenstrafen und – im Falle des Gehorsams – dem Versprechen künftiger Entlohnung durchzusetzen versuchten. Für den Verzicht auf die Erfüllung der von Gott verbotenen Wünsche, beziehungsweise für das Ertragen des Leids auf Erden wurde den Gläubigen Erlösung im Jenseits versprochen. Freud, der Gottes Gesetze durch die Gesetze der Vernunft ersetzt wissen wollte, wurde – um in diesem Gleichnis zu sprechen – zu einem ‚gottlosen‘ Moses. Für das von ihm angestrebte Ziel eines nach vernünftiger Einsicht geregelten Zusammenlebens der Menschen auf Erden hatte er allerdings nur eine sehr bescheidene Vergütung anzubieten: „Unser Gott Λόγος [Logos] wird von diesen [unsterblichen menschlichen] Wünschen verwirklichen, was die Natur außer uns gestattet […]. Eine Entschädigung für uns, die wir schwer am Leben leiden, verspricht er nicht.“ Und dann fügte Freud – vorsichtig optimistisch – noch hinzu: „[…] auf die Dauer kann der Vernunft und der Erfahrung nichts widerstehen.“ Das war Die Zukunft einer Illusion (1927), an die er glauben wollte. Also sprach Freud: „[…] die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, [ist] das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat.“

Wie Sigmund Freud über die Religion im Allgemeinen und die jüdische im Besonderen urteilte, illustriert ein Brief, den er am 16. Mai 1884 an seine Verlobte schrieb (wobei man mitdenken sollte, dass Martha eine Enkelin des Hamburger Oberrabbiners Isaak Bernays war). Freud hatte, weil er sich aus finanziellen Gründen selbst keine angemessene Kleidung leisten konnte, an der nach jüdischem Ritus vollzogenen Eheschließung seines Freundes Josef Paneth in „geborgten Kleidern“ teilgenommen. Was er dabei innerlich und äußerlich erlebte, schilderte er so:

Die Trauung fand unter einem lächerlichen Baldachin in einem zur tempelartigen Öde hergerichteten Zimmer statt. Der Pfaffe Jellinek war sehr ekelhaft, obwohl noch relativ bescheiden, er lobte natürlich die Eltern […] und mischte den lieben Herrgott ins Spiel, der auf diese beiden Menschenkinder seine ganz besondere Gunst herabschütten sollte, und dazwischen war schöner Gesang des Chasan [Kantor der Synagoge – BN] in den ergreifenden Tönen unserer alten Muttersprache. Breuer stand vor der Tür und hörte sich den Spuk nicht an, ich ärgerte mich furchtbar über die ganze Barbarei und daß zwei brave Menschen in dem Moment, wo sie wirklich bewegt sind und mehr sein wollen, die religiöse Heuchelei hinunterwürgen müssen, und dachte nach, wie ich das mir ersparen könnte, und kam zu Breuer mit dem Projekt, ich wolle zum Christentum übertreten, so daß wir dann Zivilehe schließen müssen; er verwarf es aber als zu kompliziert. Später kam mir der rettende Gedanke, daß wir doch wahrscheinlich in Wandsbek heiraten würden, wo die Ziviltrauung vorangehen muß, und daß wir uns dann die „kirchliche“ überhaupt schenken könnten, und nahm mir vor, wenn ich noch zu jener Zeit Kraft genug besäße, es durchzusetzen und sehr bös zu werden, ja vielleicht Dich gar nicht zu mögen, wenn Du auf der rituellen Trauung bestehst. Dann kamen mir Zweifel, ob wir nach dieser Ablehnung noch in der jüdischen Gemeinde verbleiben können, und davon wie von Deinen Wünschen muß ich’s abhängen lassen, denn es ist nicht die Zeit, sich von seinem Volk zu trennen […].

Tatsächlich musste sich Freud nach der Ziviltrauung, die knapp zweieinhalb Jahre später, am 13. September 1886, in Wandsbek stattfand, dann auch noch nach jüdischem Ritus trauen lassen, denn im katholischen Wien wurden Zivilehen nicht anerkannt. Und doch blieb Freud der „ungläubige Jude“, als der er sich in einem Brief an den „lieben Gottesmann“ Oskar Pfister, einem reformierten Schweizer Pfarrer, charakterisiert hat. Paradox formuliert könnte man sagen, Freud habe einen kompromisslosen Kompromiss mit ‚seinem‘ Judentum geschlossen: Er bekannte sich zu seiner jüdische Identität – und begriff sich jenseits aller religiösen und nationalen Begrenzungen als „Kulturweltbürger“ (Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915).

Als Gegenstand wissenschaftlicher Analyse zollte Freud den Religionen durchaus Respekt, doch als aufgeklärter Bürger hielt er an seiner Weigerung fest, sich religiösen (und das heißt in seinem Fall: jüdischen) Traditionen zu unterwerfen. So verbot er seiner Frau beispielsweise, Sabbatkerzen anzuzünden, und ließ seine Söhne nicht beschneiden. An den Herausgeber der Jüdischen Presszentrale Zürich schrieb er 1925: „Ich kann sagen, daß ich der jüdischen Religion so ferne stehe wie allen anderen Religionen, d.h., sie sind mir als Gegenstand wissenschaftlichen Interesses hochbedeutsam, gefühlsmäßig bin ich an ihnen nicht beteiligt. Dagegen habe ich immer ein starkes Gefühl von Zusammengehörigkeit mit meinem Volke gehabt und es auch bei meinen Kindern genährt. Wir sind alle in der jüdischen Konfession verblieben.“ Ein Jahr später heißt es dann in seiner Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith, einer jüdischen Loge, der Freud seit 1897 angehörte: „Was mich ans Judentum band, war nicht der Glaube […], auch nicht der nationale Stolz […]. Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben. Aber es blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden unwiderstehlich machte, viele dunkle Gefühlsmächte.“ Doch an Arnold Zweig, der gerade von einer Reise nach Palästina wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, schrieb Freud als der ‚ungläubige Jude‘ (Brief vom 8. Mai 1932): „[…] Palästina hat nichts gebildet als Religionen, heiligen Wahnwitz, vermessene Versuche, die äußere Scheinwelt durch die innere Wunschwelt zu bewältigen.“

Freuds Wutattacken

Zurück zum Brief, in dem Freud die Vernichtung seiner persönlichen und wissenschaftlichen Aufzeichnungen mitgeteilt hat. Dieser Brief wurde 1960 erstmals veröffentlicht (Sigmund Freud: Briefe 1873-1939). Seither ist er immer wieder zitiert worden, wenn es darum ging, die Geburt der Psychoanalyse aus dem Haupte Freuds zu hinterfragen. Der Brief war aber auch auf Freuds künftige Biographen gemünzt, von denen jeder „mit seinen Ansichten über die ‚Entwicklung des Helden‘ recht behalten“ sollte. Doch wie die Geschichtsschreibung im Allgemeinen so verfolgen auch Biographien (und Autobiographien erst recht) das Ziel, die Vergangenheit so zu rekonstruieren, dass sich daraus eine Geschichte ergibt, mit deren Leitfaden die Vergangenheit mit der Gegenwart sinnvoll zu verbinden ist. Der Wunsch, den ‚Helden‘ einer solchen Geschichte (sei es ein ‚großer‘ Mann, eine Religion, ein Volk, eine Nation oder sonst was) im Lichte erstrahlen zu lassen, spielt dabei eine große Rolle. Doch wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Und wenn es dennoch gelänge, das Objekt der biographischen (historischen) Begierde realitätsgerecht darzustellen, was bliebe dann noch zu sagen? Die Antwort findet sich in einem Brief Freuds vom 31. Mai 1936 an Arnold Zweig, der angefragt hatte, ob Freud damit einverstanden sei, wenn er dessen Biographie schreibe: „Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen. Die Wahrheit ist nicht gangbar, die Menschen verdienen sie nicht, und übrigens hat unser Prinz Hamlet nicht recht, wenn er fragt, ob jemand dem Auspeitschen entgehen könnte, wenn er nach Verdienst behandelt würde?“

Der Mitteilung, er habe jetzt all seine schriftlich fixierten Gedanken dem Feuer übergeben, fügte Freud hinzu: „Sie müssen jetzt nochmals gedacht werden.“ Das ist insofern interessant, als Freud die Arbeit der Re-Konstruktion eines durch Abwehr von Erinnerungen lückenhaft gewordenen Gedächtnisses später als die wichtigste Aufgabe des Psychoanalytikers bezeichnen wird, den er an dieser Stelle mit einem Archäologen vergleicht, der aus Bruch-Stücken ein Ganzes zusammensetzen soll (Konstruktionen in der Analyse, 1937). Und wie reagierte Martha Bernays auf das von Freud inszenierte Autodafé? Ihre Antwort war bisher unbekannt. Jetzt finden wir sie in ihrem Brief (vom 30. April 1885) an den Verlobten: „Und was soll ich zu Deiner plötzlich eingetretenen Vernichtungswut sagen? […] Mir tut es sehr leid um die vielen verbrannten Sachen, Du hast mich nie einen Blick in Deinen früheren Menschen werfen lassen, oder doch nur flüchtig […]. Ich mag nichts verbrennen, was mir einmal lieb war, das ist für mich ein schmerzliches Losreißen.“

Nicht nur an dieser, auch an vielen anderen Stellen des Briefwechsels wird deutlich, wie sehr sich Martha Bernays (auf lange Sicht erfolgreich) darum bemühte, aus dem ungestümen Verlobten einen beherrschten Mann zu machen. Das „kleine Liebchen“ (so Freuds Anrede im Brief vom 22. Februar 1885) musste versuchen, die Wut des immer wieder von neuem narzisstisch verletzten „liebsten Mannes“ (so ihre Anrede im Brief vom 27. Februar 1885) zu bändigen und die grandiosen Phantasien, mit denen er seine depressiven Verstimmungen kompensatorisch ausglich, mit faktischen Gegebenheiten konfrontieren. Die von ihm gegen andere erhobenen Vorwürfe mussten entkräftet oder doch wenigstens relativiert werden (insbesondere dann, wenn sich die Attacken gegen Marthas Mutter und ihren Bruder Eli richteten, dem Freud vorgeworfen hatte, er habe über Marthas ererbtes Geld zu deren Nachteil verfügt).

Eine solche Wutattacke verdeutlicht exemplarisch der Brief Freuds vom 9. April 1884, in dem es heißt:

Ich war heute in so bittern Gedanken versunken, warum Du eigentlich weg musstest und ob das recht von Dir war, Dich nicht einmal zu sträuben […]. [A]us dem einzigen Fehler, den Du begangen hast, mir Ja zu sagen, ohne mich zu lieben, oder dann später nicht Mut und klares Urteil und unvermischte Empfindung zu zeigen, als der Konflikt zwischen mir und dem verrückten Buben [Marthas Bruder Eli] eintrat, hat sich mit der Konsequenz einer tragischen Verwicklung aller Zwiespalt erzeugt, der endlich zu unserer Trennung geführt hat, unter der ich mehr leide als Du glaubst, denn ich habe Dich doch viel lieber als Du mich wahrscheinlich lieben kannst. Und dann weiß ich nicht, ob ich mehr mich ärgern oder Dich bewundern soll, wenn Du so ganz vergißt, daß dieselbe Person als rücksichtsloseste Feindin unserer Liebe gehandelt hat, die Du als Deine Mutter pflegst. […] Und ich werde noch jahrelang so fortleben, von einem Glücksfall abhängig, ob ich Dich einmal im Jahr sehen kann, und das ist doch Deine Schuld mit, vor allem die der Deinigen, und vor Liebe und vor Haß wird’s mir schwer meine Fassung zu behalten.

Auf diese Anwürfe antwortete die tief getroffene Verlobte (am 13. April): „[…] es liegt sehr viel Niederschmetterndes für mich in den Dingen, die Du heraufbeschwörst. Und dann, die Eifersucht auf Mama ist so kleinlich, Du weißt so genau, daß ich da einfach meine Pflicht tue und daß von einem Zurückstehen Deinerseits hinter irgendeiner anderen Beziehung so durchaus nicht die Rede sein kann, daß ich Dich manchmal nicht verstehe, wie Du so zu mir sprechen kannst.“

Das half alles nichts. Wenige Monate später erhielt Martha per Post neue Verwünschungen zugestellt, auf die sie diesmal so reagierte: „Du kannst doch im Ernst selbst nicht wünschen, daß ich es zu solchen Worten über meine Leute brächte, wie Du sie heute gebraucht (die Bezeichnung ‚Gesindel‘ tut gerade nicht wohl, wenn damit die Mutter gemeint ist).“ Und: „Sigi, mein Sigi, wie bringst Du’s übers Herz, mir solche harten Worte zu sagen, ich versteh Dich gar nicht.“

Auf eine andere – vergleichsweise harmlose, aber ebenfalls bevormundende und besitzergreifende – Forderung reagierte Martha gelassener. Am 18. Januar 1885 hatte sie ihrem Verlobten diese Bitte vorgetragen: „Ich möchte so gerne Schlittschuhlaufen können. Wirst Du mich’s lernen lassen, Schatz, wenn ich erst bei Dir bin?“ Die barsche Antwort kam postwendend. An „Mein kleines Liebchen“ gerichtet hieß es da: „[…] ob ich Dich Schlittschuhlaufen lassen werde. Entschieden nein, dazu bin ich zu eifersüchtig. Allein kann ich‘s nämlich nicht, und dürfte überdies keine Zeit dazu haben, Dich zu begleiten, begleitet müßtest Du aber doch sein. Das gib also nur auf.“

Es dauerte einige Tage – und Freud lenkte mit dieser seltsamen Begründung ein. „Ich habe mir‘s überlegt, ich werde Dich doch allein auf dem Eis laufen lassen, Paneth tut‘s auch, und warum soll ich eifersüchtiger sein als er? Ich habe wirklich viel Eignung zu dieser schönen Leidenschaft, aber sieh, doch mehr angewöhnt als angeboren.“ Dieser Selbstdiagnose des angehenden Nervenarztes begegnete die damals 23jährige Martha Bernays mit sanfter Ironie: „Dein Konsens, Schatzi, betreffend das Eislaufen scheint eine günstige Veränderung in der Temperatur hervorgerufen zu haben. Heut hat zuerst wieder ein lauer Südwind geblasen […]. Dafür gebe ich mit Freuden alle Pläne, die Deine ‚künstliche‘ Eifersucht wecken, auf.“ Das Eis war (im doppelten Sinne des Wortes verstanden) geschmolzen – und die Frage des Schlittschuhlaufens mit oder ohne Begleitung war damit fürs erste gegenstandslos geworden.

 „Kein Geld im Haus, kein Feuer am Herd“

Freud, der nur wenige Wochen nach der ‚heimlichen‘ Verlobung am Wiener Allgemeinen Krankenhaus die ärztliche Weiterbildung aufgenommen hatte, mit dem Ziel, eine Praxis zu eröffnen, um endlich heiraten zu können, wechselte Anfang 1884 (damit beginnt der 3. Band der Brautbriefe) von der Abteilung für Syphilis in die Abteilung für Nervenkrankheiten. Doch auch hier bekam er als Sekundararzt nur ein sehr geringes Gehalt. Und obwohl er durch Kurse für ausländische Ärzte, Rezensionen für medizinische Fachzeitschriften und hin und wieder mögliche private Krankenbehandlungen sein Einkommen aufbessern konnte, blieb das Elend doch ein ständiger Begleiter. Schließlich musste er damals auch noch für seine Eltern und Geschwister sorgen, denn Jakob Freud, der Vater, war ohne festes Einkommen. Als Wollhändler in Freiberg (Mähren) hatte er noch ein gutes Auskommen, doch 1860, ein Jahr nach der Ankunft in Wien, musste er Konkurs anmelden. Sechs Jahre später wurde sein Bruder Josef Freud wegen Betrugs zu zehn Jahren Haft verurteilt. Inwieweit Jakob Freud (und seine beiden Söhne aus erster Ehe, die in England lebten und ihn finanziell unterstützten) in diese Strafsache mit gefälschten Rubelscheinen verwickelt waren, ist ungeklärt (s. dazu Georg August: „Dann kamen die langen, harten Jahre“. Zur Situation der Familie Freud nach ihrer Ankunft in Wien im Jahr 1859. In: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 2015).

Am 2. Januar 1884 – er hatte seine Tätigkeit an der IV. Medizinischen Abteilung gerade erst aufgenommen – informierte Freud seine Verlobte über die Zustände, die er in der Klinik vorfand, wobei deutlich wird, wie nah ihm das geschilderte Elend ging:

Wirst Du glauben, daß auf allen – nicht klinischen – Krankenzimmern des Spitals kein Gas eingerichtet ist, so daß die Kranken in den langen Winterabenden im Finstern liegen und der Arzt in tiefer Nacht von einem Wachslicht beleuchtet […] seine Visite macht, ja selbst Operationen ausführt? Ferner, wirst Du glauben, […] daß dort, wo unter 20 Kranken immer zehn schwer Lungenkranke liegen, einmal im Tag ausgekehrt wird, wobei das ganze Zimmer in Staubwolken eingehüllt ist? So sieht die Humanität unserer Zeit aus. Es ist wahr, die armen Teufel haben Bett und Pflege, mehr als sie je im Leben gehabt haben, aber haben sie nicht als Kranke Anspruch auf mehr von dem, wovon die Gesellschaft sie ohne ihr Verschulden durch ihre eigene Mißwirtschaft ausgeschlossen hat? Und was sind die Kosten solcher Einrichtungen, die den Ermatteten und den Verlorenen eine menschenwürdiger zugebrachte Frist geben könnten, im Vergleich zu den Kosten für alle Nichtigkeiten unserer europäischen Herrn? Kann man was anders wünschen, als daß der Teufel das ganze unverbesserliche Pack holen möge? Nun, ich bin kein Weltreformer, ich will nur meine kleine Privatrache haben; ich sammle Daten, um, wenn ich ausgetreten bin und mir nicht dadurch schaden kann, durch Veröffentlichung in den Zeitungen die allgemeine Aufmerksamkeit auf diese Dinge zu lenken.

Die Herausgeber der Brautbriefe merken hier an: „Entsprechende Veröffentlichungen sind nicht bekannt.“ Das stimmt, wenn man Freuds Ankündigung wörtlich nimmt. Versteht man sie hingegen sinngemäß, ließe sich der folgende Passus aus seiner Schrift Die Zukunft einer Illusion (1927) anführen:

Bei den Einschränkungen, die sich nur auf bestimmte Klassen der Gesellschaft beziehen, trifft man auf grobe und auch niemals verkannte Verhältnisse. Es steht zu erwarten, daß diese zurückgesetzten Klassen den Bevorzugten ihre Vorrechte beneiden und alles tun werden, um ihr eigenes Mehr von Entbehrung los zu werden. Wo dies nicht möglich ist, wird sich ein dauerndes Maß von Unzufriedenheit innerhalb dieser Kultur behaupten, das zu gefährlichen Auflehnungen führen mag. Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Gütern sie aber einen zu geringen Anteil haben. […] Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt, […] weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.

In diesem Passus kann man den Widerschein der Erinnerung an die bittere Armut erkennen, in der Freud jahrelang leben musste. Hierzu noch einige weitere Beispiele: Am 8. Juni 1884 schreibt Freud, seine Angehörigen hätten „jetzt wirklich Hungertage“ durchlitten. Kurz darauf ist seine Schwester Anna zu Besuch in Wandsbek und berichtet Martha, in welchen Verhältnissen sie und ihre Familie in Wien leben. Dazu heißt es in Marthas Brief vom 12. Juni an den Verlobten: „[…] die Schilderungen über das Elend bei euch zu Haus haben mir das Herz zerrissen, […] es ist so trostlos.“ An Neujahr 1885 erinnert sich Freud an den Silvesterabend „vor einem Jahr“. Damals habe er nicht einmal „ein Stückchen Geld“ gehabt, um mit Freunden „Nachtmahl zu essen“; ich „schlich mich […] auf mein sekundärärztliches Zimmer“. Dieses Jahr gehe es ihm finanziell etwas besser und so habe er am Silvesterabend  mit Kollegen in einem Gasthaus speisen können. Ein halbes Jahr später, am 19. Mai 1885, beschreibt er in einem Brief an die Verlobte, den Besuch seiner Schwestern: „Mittags waren Mitzi und Pauli bei mir“ (er selbst hatte ein Zimmer in der Klinik). „Mitzi sieht schrecklich elend aus, die Mutter soll wieder krank sein, es ist natürlich kein roter Heller im Hause, und das hat mich wieder tief herabgedrückt.“ Zwei Tage später berichtet er, nach einer durchwachten Nacht, die er bei seinem Freund Ernst von Fleischl verbracht hat, den er ärztlich betreute („Ich frage mich jedesmal, ob ich noch in meinem Leben etwas so Erschütterndes und Erregendes erleben werde wie diese Nächte bei Fleichl“ – siehe dazu unten mehr), vom Besuch seiner Mutter, die ihn beim Schreiben des Briefes an die Verlobte unterbrochen habe: „Dieselben Sorgen wie alljährlich und wie alltäglich, Schatz; kein Geld im Haus, kein Feuer am Herd.“

Weil er nie genug Geld hatte, musste sich Freud immer wieder Geld leihen – bei seinem Freund und Patienten Ernst Fleischl von Marxow, den er aus der Zeit in Brückes Labor kannte; bei seinem väterlichen Mentor Josef Breuer, der ihm erste Patienten überwies; bei seinem Jugendfreund Josef Paneth, der ihm einen längerfristigen Kredit zur Verfügung gestellt hatte. Am 5. Februar 1885 teilt Freud der Braut mit, wofür er diesmal viel Geld ausgegeben hat: „Ich habe mir heute 100 Stück Zigarren gekauft, mit denen ich den Rest des Monats auskommen soll, ich rauche nämlich zuviel und bin jeden Augenblick im Laden, mir welche zu kaufen.“ Dann versichert er der Verlobten: „Ich will‘s doch einschränken.“ Martha antwortete: „Wieviel Du jetzt verpaffst; das kann ja die stärkste Lunge umbringen.“ Doch die Sucht war stärker als jede Warnung (zunächst die Marthas und später die des Hals-Nasen-Ohren-Arztes Wilhelm Fließ). Freud rauchte weiter – und zwar auch dann noch, als er bereits mehrfach wegen Gaumenkrebs operiert worden war, an dessen Folgen er schließlich starb.

Martha Bernays als Stichwortgeberin

Es ist nicht übertrieben, wenn man feststellt, Martha Bernays habe sich während der Verlobungszeit immer wieder in der Position einer um Verständnis und Ausgleich bemühten, aber auch Grenzen setzenden ‚Therapeutin‘ befunden. Bisweilen hatte sie allerdings Mühe, mit ihren eigenen Gefühlen zurechtzukommen. So berichtet sie in einem Brief vom Dezember 1884 etwa über die Angst (und Eifersucht), die sie beim Besuch ihres Verlobten im September erleben musste: „Weißt Du noch, wie Du hier warst und einmal am Abend Minna auf einem kleinen Weg begleitet hast, wie bang, wie schrecklich bang mir da wurde? Ist das nicht seltsam […]?“

Kurze Zeit später löste Ignaz Schönberg wegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung (er starb 1886 an Lungentuberkulose) die Verlobung mit Marthas Schwester Minna auf. Diese Tragödie spielt im Briefwechsel unter anderem auch deshalb eine große Rolle, weil Schönberg zeitweise von Freud ärztlich betreut wurde. Minna blieb unverheiratet. Im November 1885 wird sie Mitglied des Haushalts von Martha und Sigmund Freud, als dessen intellektuelle Gesprächspartnerin sie ihn später auf mehreren Reisen begleitete. Die Gerüchte, sie sei auch die Geliebte ihres Schwagers gewesen, die C. G. Jung streute, der selbst ein Meister der Ménage-à-trois war, erhielten neue Nahrung, als Franz Maciejewski im Gästebuch des Hotels Schweizerhaus in Maloja – dort hatten Freud und seine Schwägerin 1898 bei einer Reise durchs Engadin übernachtet – diesen handschriftlichen Eintrag Freuds fand: „Dr. Sigm Freud u. Frau Wien“ (Maciejewski, Freud in Maloja. Die Engadiner Reise mit Minna Bernays, 2008).

Im Anschluss an die Erinnerung an den Abendspaziergang ihres Verlobten mit der Schwester, der sie so sehr geängstigt hatte, berichtet Martha ihrem Verlobten von ihren Träumen: „Wenn ich in der Nacht aufwache und im Traum vorher grad den Entschluß gefaßt hatte, zu Dir zu gehen, weil wir uns so lang nicht gesehen haben, und das geht alles so leicht und ohne Hindernis wie immer beim Träumen, wenn ich dann aufwache, ist mir so schrecklich weh, daß ich‘s nicht beschreiben kann, und mit dem Schlaf ist‘s dann gewöhnlich vorbei.“ An dieser Stelle merken die Herausgeber der Brautbriefe an: „Martha formuliert hier erneut eine Andeutung der späteren psychoanalytischen Auffassung vom Traum als Versuch einer Wunscherfüllung.“ Mit der Bemerkung „erneut“ beziehen sie sich auf einen Brief an den Verlobten vom 26. Juni 1884, in dem sie geschrieben hatte: „Im Traum empfang ich Dich schon jede Nacht.“ In einer Fußnote der Herausgeber heißt es: „Martha spricht hier einen Grundgedanken des späteren psychoanalytischen Verfahrens für das Deuten von Träumen aus: der Traum stellt einen Wunsch als erfüllt dar bzw. ist der Versuch einer Wunscherfüllung.“

Bei allem Lob für das psychologische Verständnis und therapeutische Feingefühl der Träumerin – würde die Behauptung der Herausgeber, die sich große Verdienste bei der Aufklärung der in den Brautbriefen genannten Namen, Orte und Begebenheiten erworben haben, auch in diesem Fall zutreffen, so träfe sie auf jeden zu, der schon einmal über einen im (manifesten) Traum erfüllten Wunsch berichtet hat, ja sogar auf jedes Tier, soweit es der Sprache mächtig wäre. Bei Freud heißt es dazu: „Bekannte Sprichwörter sagen: das Schwein träumt von Eicheln, die Gans vom Mais; oder fragen: wovon träumt das Huhn? von Hirse. Das Sprichwort steigt also noch weiter hinab als wir vom Kind zum Tier, und behauptet, der Inhalt des Traumes sei die Befriedigung eines Bedürfnisses.“ Freud illustrierte diese sprichwörtliche Wahrheit, auf die er nicht erst durch die Traumerzählungen seiner Verlobten aufmerksam gemacht werden musste, denn sie war ja seit jeher bekannt, indem er der VIII. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse (über „Kinderträume“) die Reproduktion eines Gemäldes Moritz von Schwinds beigab: Der Traum des Gefangen, der dessen „Befreiung zum Inhalt“ habe, wie Freud diese Abbildung kommentierend hinzufügte.

Moritz von Schwind: Der Traum des Gefangenen (1836)
Bayerische Staatsgemäldesammlung, Schack Galerie

Soviel zur Wunscherfüllung im manifesten Traum, die auf der Hand lag, während die Wahrheit des latenten Traums – die traumhafte Erfüllung eines infantilen Wunsches – durch die von Freud eingeführte Methode der Traum-Deutung erst noch zu entschlüsseln war. Wollte man Martha Bernays dennoch eine vorweggenommene ‚psychoanalytische‘ Pionierleistung zuschreiben, dann könnte man auf einen Abschnitt aus ihrem Brief vom 15. Juni 1885 verweisen. Da heißt es: „[…] plötzlich kam mir eine Frage in den Sinn, die mich monatelang gar nicht beschäftigt hat, die Frage, ob Du mich wohl noch so lieb hättest wie vor drei Jahren? Und da saß ich im Nu ganz aufrecht im Bett. Es kam vom Herzen ein Etwas, das schnürte mir Brust und Kehle zusammen und sagte: […] ,Nein, wieso auch? Du bist nicht bei ihm, Du schreibst meistens kühle geschäftsmäßíge und vernünftige Briefe, Du gibst ihm nichts, Du hast ihn in Vielem enttäuscht, er hat sich was anderes, was besseres von Dir gedacht.‘ So sagte es in mir. Als ich dann wieder etwas ruhiger geworden, sagte ich mir: Ganz so ist es doch nicht.“ Verwegen interpretiert könnte man Martha Bernays demnach als Stichwortgeberin des von Freud formulierten Instanzenmodells bezeichnen, beschrieb sie in ihrem Brief doch, wie ‚es‘ (Es) spricht („So sagte es in mir“) und ‚ich‘ (Ich) antwortet („Ganz so ist es doch nicht“).

Dass ‚Es‘ im Traum aktiv ist, wusste man allerdings auch schon vor Freud. ‚Es‘ wollte ihn wecken – oder: Bach auf gehacktem Fleisch spielen – so lautet beispielsweise der Titel eines Beitrags über Richard Wagners Träume (Justus Noll, Neuen Zeitschrift für Musik, 1983). In Marthas Formulierung „So sagte es in mir“ könnte man aber auch die Variation eines – den Gebildeten der damaligen Zeit durchaus geläufigen – Aphorismus‘ von Georg Christoph Lichtenberg erkennen: „Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt.“ Ludwig Feuerbach variierte diesen Aphorismus so: „[…] du sagst: Ich denke. Hat aber nicht auch Lichtenberg recht, wenn er behauptet: ‚Man sollte eigentlich nicht sagen: Ich denke, sondern: Es denkt‘?“ Auf eine Frage von Ludwig Binswanger antwortete Freud 1925 (kurz nach Einführung des Instanzenmodells): „Feuerbach habe ich [in] jungen Jahren allerdings mit Genuß und Eifer gelesen.“

Wo und wie auch immer ‚Es‘ in und zu Freud gesprochen haben mag – seine Pioniertat bestand in der Einführung der Methode der freien Assoziation, mit deren Hilfe der innere stumme Monolog des ‚es denkt‘ zur Sprache kommen konnte (Bernd Nitzschke: Ich denke, also bin ich: Es. Kurze Beschreibung des langen Wegs von Descartes zu Freud. In: W. Tress, , R. Heinz [Hg.]: Willensfreiheit zwischen Philosophie, Psychoanalyse und Neurobiologie, 2007).

Experimente mit dem „Zaubermittel“ Kokain

Albrecht Hirschmüller, einer der Mitherausgeber der Brautbriefe, hat dem 3. Band einen außerordentlich informativen Text vorangestellt: Kokain: seit Frühjahr 1884 Sigmund Freuds neues Forschungsfeld. In diesem Jahr begannen die Bemühungen Freuds, Kokain als neues Medikament bei allen möglichen Krankheiten und Beschwernissen einzusetzen – bei Störungen der Verdauung, Übelkeit und Erbrechen, Schwindelgefühlen, Erschöpfungszuständen, Neurasthenie und Depression, Seekrankheit usw. Außerdem hoffte er, Kokain als Antidot gegen den Morphinismus einsetzen zu können. Er selbst benutzte Kokain gegen seine depressiven Verstimmungen, verschrieb es Patienten und empfahl es auch seiner Braut. Am 2. Juni 1884 kündigte er ihr den bevorstehenden Besuch in Wandsbek mit den Worten an: „[…] wenn Du unartig bist, wirst Du sehen wer stärker ist, ein kleines, sanftes Mädchen, das nichts ißt [Martha litt an Essstörungen] oder ein großer, wilder Mann, der Kokain im Leib hat. In meiner letzten schweren Verstimmung habe ich wieder Coca genommen und mich mit einer Kleinigkeit wunderbar auf die Höhe gehoben. Ich bin eben beschäftigt, für das Loblied auf dieses Zaubermittel Literatur zu sammeln.“ Das Ergebnis der Recherche erschien kurz darauf im Zentralblatt für die gesamte Therapie (Freud, Über Coca, 1884) – doch die Ernte fuhr wenige Monate später ein anderer ein. Freud setzte seine Forschungsarbeiten dennoch fort. Seine letzte diesbezügliche Veröffentlichung erschien 1887 in der Wiener Medizinischen Wochenschrift. Doch die Hoffnung, er könne dadurch reich und berühmt werden, erfüllte sich nicht. Das „Ringen um Geld und Namen“ (Brief vom 12. Januar 1885) endete in einem Fiasko. Lassen wir dazu aber erst einmal Freud selbst zu Wort kommen, und zwar so, wie er sich Jahrzehnte später erinnerte (Selbstdarstellung“, 1925):

Ich kann hier rückgreifend erzählen, daß es die Schuld meiner Braut war, wenn ich nicht schon in jungen Jahren berühmt geworden bin. Ein abseitiges, aber tiefgehendes Interesse hatte mich 1884 veranlaßt, mir das damals wenig bekannte Alkaloid Kokain von Merck kommen zu lassen und dessen physiologische Wirkungen zu studieren. Mitten in dieser Arbeit eröffnete sich mir die Aussicht einer Reise, um meine Verlobte wiederzusehen, von der ich zwei Jahre getrennt gewesen war. Ich schloß die Untersuchung über das Kokain rasch ab und nahm in meine Publikation die Vorhersage auf, daß sich bald weitere Verwendungen des Mittels ergeben würden. […] Als ich vom Urlaub zurückkam, fand ich, daß […] Carl Koller […], dem ich auch vom Kokain erzählt, die entscheidenden Versuche am Tierauge angestellt und sie auf dem Ophtalmologenkongreß zu Heidelberg demonstriert hatte. Koller gilt darum mit Recht als der Entdecker der Lokalanästhesie durch Kokain, die für die kleine Chirurgie so wichtig geworden ist; ich aber habe die damalige Störung meiner Braut nicht nachgetragen.

Nach der Veröffentlichung des 3. Bandes der Brautbriefe kann diese autobiographische Stilisierung mit dem tatsächlichen Ablauf der Ereignisse verglichen werden. Freud hatte, als er im Juli 1884 seine Arbeit Über Coca veröffentlichte, seine Braut, über die er in der Selbstdarstellung eine wesentlich längere Trennungszeit suggerierend schreibt, er sei von ihr „zwei Jahre getrennt gewesen“, zuletzt vor einem knappen Jahr gesehen. Sie war im August 1883 in Wien zu Besuch. Auch Freuds Aussage, es habe sich ihm „mitten in dieser Arbeit“ (der Untersuchung der physiologischen Wirkung des Kokains) „die Aussicht einer Reise“ nach Wandsbek „eröffnet“, trifft nicht zu. Die Reise nach Wandsbek war längst geplant und hätte beinahe noch verschoben werden müssen, aber nicht deshalb, weil Freud an der Erforschung der Wirkungsweise des Kokains weiterarbeiten wollte, vielmehr sollte er einen Kollegen in der Klinik vertreten, der dann aber doch noch rechtzeitig aus dem Urlaub zurückkehrte. Und so konnte Freud am 1. September 1884 seine lange geplante Reise antreten. Hinter der (Schutz-)Behauptung, es sei „die Schuld meiner Braut“ gewesen, „wenn ich nicht schon in jungen Jahren berühmt geworden bin“ (Selbstdarstellung), verbirgt sich Freuds ein halbes Jahrhundert später noch immer nicht überwundener Groll darüber, dass ihm ein anderer zuvorgekommen war.

Der Wiener Arzt Carl Koller hatte als erster die lokalanästhetische Wirkung des Kokains für schmerzfreie Operationen am Auge demonstriert und war deshalb – anstelle Freuds – berühmt geworden. Freuds Arbeit Über Coca hatte ihn angeregt, wie Koller freimütig bekannte. Und auch sonst war Koller ein integrer Mann. Als er von einem Antisemiten als „Saujud“ beschimpft wurde, versetzte er dem Beleidiger einen „Schlag ins Gesicht“. Da beide Reserveoffiziere waren, kam es zum Duell „auf Säbel unter recht erschwerenden Bedingungen“. Koller sei unverletzt geblieben, während der Duellgegner „zwei tüchtige Hiebe abbekommen“ habe, schreibt Freud im Brief an die Braut vom 6. Januar 1885. Und weiter heißt es da: „Wir sind alle herzlich froh, ein stolzer Tag für uns.“ Und noch am selben Tag gratulierte Freud dem tapferen Koller brieflich mit diesen Worten: „Ich selbst würde mich sehr freuen, wenn Sie mein Anerbieten annehmen würden, in unserem Verkehr das vertraute ‚Du‘ als äußerliches Zeichen aufrichtiger Freundschaft, Teilnahme und Hilfsbereitschaft gelten zu lassen. Lassen Sie mich hoffen, daß […] Sie immer das sein werden, was Sie in den letzten Wochen und Tagen waren – den Menschen ein Helfer und ein Stolz der Freunde.“

Soweit das frühe Lob im Brief Freuds vom 6. Januar 1885 an Carl Koller. Die späte Kritik steht in einem anderen Brief. Freud schrieb ihn am 8. November 1934 an den Wiener Augenarzt Josef Meller: „K. Koller, etwas jünger als ich, war – und ist wahrscheinlich noch – eine pathologische Persönlichkeit […]. Wenn er trotz seiner großen Entdeckung von Prof. Reuss nicht als Assistent angenommen wurde, so mag antisemitische Einstellung einen guten Anteil an der Abweisung gehabt haben, aber diese konnte sich auch auf seine unangenehmen persönlichen Eigenschaften berufen. […] In seinen beständigen neurotischen Beschwerden hatte er mich zum Vertrauten gewählt“ (Brautbriefe, Bd. 4, S. 326, Anm. 9). Bleibt zu fragen, was den Vertrauten noch Jahrzehnte später motivierte, sich in dieser herabsetzenden Weise über Carl Koller zu äußern? Wir kennen dieses Beziehungsmuster aus Freuds Biographie: Zuerst grenzenlose Bewunderung (Wilhelm Fließ als „Kepler der Biologie“; C. G. Jung, als „Joshua“, der „das gelobte Land der Psychiatrie […] in Besitz nehmen“ sollte) – und dann, nach der Enttäuschung, Abwertung und Aggression: Fließ als Paranoiker, C. G. Jung als Abtrünniger, dem Freud, wie er in einem Brief an Karl Abraham schrieb, zum Abschied noch eine „Bombe“ (in Gestalt der Arbeit Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, 1914) nachwerfen musste.

Bei der Anwendung des Kokains in der Augenchirurgie hatte Freud Koller den Vortritt lassen müssen, doch er konnte sich (vorerst noch) trösten, denn er hatte ja noch ein anderes Ass in der Hand. Am 9. Mai 1884 schrieb er in diesem Sinne an Martha: „Triumph, freue Dich mit mir. Es ist also doch aus dem Kokain was Schönes geworden. Was sehr Schönes. Denke Dir, es ist, wie ich vermutet hatte, ein Mittel gegen die Morphiumgewöhnung und die schauderhaften Zustände bei der Morphiumentziehung, und der erste Patient, an dem ich das wahrnehme, ist zu meiner Freude kein Geringerer als Fleischl. Er hat seit drei Tagen kein Morphium genommen, dafür Kokain und befindet sich dabei vortrefflich, er hofft jetzt, daß er die ganze Morphinabstinenz so durchmachen kann.“ Ein Jahr später veröffentlichte Freud dann eine Arbeit Ueber die Allgemeinwirkung des Cocains, in der er über den therapeutischen Erfolg berichtete, den er erzielt zu haben glaubte: „Ich habe selbst Gelegenheit gehabt, eine – und zwar plötzliche – Morphinentziehung unter Cocain hier zu beobachten, und konnte sehen, daß die Person […] mit Hilfe des Cocains arbeitsfähig und außer Bett blieb […]; nach 20 Tagen war die Morphinabstinenz überwunden.“

Doch das war leider nicht das Ende – denn am Ende war Ernst Fleischl von Marxow nicht nur morphium-, sondern auch noch kokainabhängig. Als das Suchtrisiko des Kokains dann allgemein bekannt war, wofür Albrecht Erlenmeyer gesorgt hatte, „zu jener Zeit vielleicht die größte deutsche Autorität auf dem Gebiet des Morphinismus“ (so die Mitherausgeber der Brautbriefe Gerhard Fichtner und Albrecht Hirschmüller im Jahrbuch der Psychoanalyse, 1988), musste Freud das Scheitern der von ihm propagierten Einführung des Kokains in die Therapie des Morphinismus eingestehen. Jahrzehnte später schrieb er an Fritz Wittels, seinen ersten Biographen: „Das Studium von Kokain war ein Allotrion [gr. – nicht zu mir gehörend], das ich gerne beendet hätte.“

Ich fasse zusammen: Die Brautbriefe sind, wie die angeführten Beispiele zeigen sollten, für jeden, der sich künftig mit der Geschichte der Psychoanalyse und dem Werdegang ihres Begründers wissenschaftlich auseinandersetzen will, eine unverzichtbare Primärquelle. Die Briefe lassen nun aber auch endlich die Kontur einer Frau sichtbar werden, deren Beitrag zur „Entwicklung des Helden“ in der bisherigen Freud-Biographik kaum die notwendige Beachtung gefunden hat: Martha Bernays. Ohne ausreichende Würdigung dieser Frau kann es künftig keine ernstzunehmende Freud-Biographie mehr geben. Die Brautbriefe sind aber nicht nur für Fachleute eine nahezu unerschöpfliche Quelle, sie sind in einer Zeit, in der WhatsApp, Twitter, Skype et al. zunehmend die Formen der Kommunikation bestimmen, auch für jeden anderen mit Gewinn zu lesen. Martha Bernays und Sigmund Freud haben ihre Gefühle in allen Höhen und Tiefen noch der Schreibkunst anvertraut – und damit ein einzigartiges Zeugnis einer vom Verschwinden bedrohten Kulturtechnik hinterlassen. Den Herausgebern der Brautbriefe sei dafür mit diesen von Thomas Mann ausgeliehenen Worten gedankt, mit denen er seinerzeit (1908) ein ebenfalls verdienstvolles Projekt (die Herausgabe guter Literatur für jedermann) würdigte: „Dieses Unternehmen ist kaum ein ‚Unternehmen‘ im zeitgemäßen Sinne. Hier wirkt ein reiner, uneigennütziger Wille im Dienste einer guten und liebevollen Sache – ein Wille, den man mit Kräften ermuntern und fördern soll, wie diese Zeilen es zu tun versuchen.“

Titelbild

Sigmund Freud / Martha Bernays: Die Brautbriefe. Band 3. Warten in Ruhe und Ergebung, Warten in Kampf und Erregung. Januar 1884 – September 1884.
Herausgegeben von Gerhard Fichtner, Ilse Gubrich-Simitis und Albrecht Hirschmüller unter Mitwirkung von Wolfgang Kloft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
624 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783100228130

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Sigmund Freud / Martha Bernays: Die Brautbriefe. Band 4. Spuren von unserer komplizierten Existenz. September 1884 – 1885.
Herausgegeben von Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis und Albrecht Hirschmüller unter Mitwirkung von Wolfgang Kloft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
667 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783100228147

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