Traumata überleben
Susanne Fritz’ starker Text „Wie kommt der Krieg ins Kind“
Von Anton Philipp Knittel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs sind Spuren vielfältiger Seelenschmerzen, die Susanne Fritz in ihrem Familienbuch Wie kommt der Krieg ins Kind offenlegt. Und um es gleich vorweg zu sagen: Die literarische Entzifferung und wohl auch Verarbeitung eines über drei Generationen weitergegebenen Familientraumas ist ein starker Text, dokumentarisch und fiktional zugleich: über verstörende, sich fortschreibende Abhängigkeiten, über physische und psychische Gewalt sowie eine beklemmende, abgründige Mutter-Tochter-Bindung. Wie kommt der Krieg ins Kind ist darüber hinaus ein fundierter Beitrag zur Erinnerungskultur. Die Familienerzählung über die Mattulkes ist auch eine Lektüre über den Umgang mit Flucht und Vertreibung, insbesondere in der wechselvollen deutsch-polnischen Geschichte. Und dass Fritz alles in einer präzisen Sprache erzählt und berichtet, die das eigene Erkenntnisinteresse immer wieder hinterfragt, beleuchtet und auf den Prüfstand stellt, ist ein weiterer Vorzug dieser Spurenlese.
Nach dem Tod der Mutter begibt sich die in Freiburg lebende Fritz, 1964 im Schwarzwald geboren, auf die Suche nach der Geschichte ihrer Familie, insbesondere die der Mutter „als gefangenes Kind“. Die Familie stammt aus Schwersenz, dem heutigen Swarzȩdz bei Posen. Von Schwaningen, wie das Dorf zwischendurch heißt, fliehen die Mattulkes im Januar 1945, geraten jedoch in den Vormarsch der Roten Armee. Der Vater fällt kurz vor Kriegsende, die Töchter werden verschleppt. Während die ältere Tochter nach eineinhalb Jahren entlassen wird, wird die jüngste, noch nicht einmal 15 Jahre alt, von den Befreiern in das Arbeitslager Potulice gesteckt, einer ehemaligen Außenstelle des Konzentrationslager Stutthof. Vier Jahre sollte es dauern bis die spätere Mutter von Susanne Fritz entlassen wird.
„Wenn es doch endlich soweit wäre, dass wir uns alles erzählen könnten“, schreibt das Mädchen aus dem Lager, während es im Tagebuch immer wieder über die Schrecknisse heißt, „dass es nicht erzählt werden kann und nicht erzählt werden darf“.
Die sprachverschlagende Zeit im Lager wird später zum Tabu in der Familie, wenngleich immer wieder zwischen den Zeilen darüber gesprochen, angedeutet oder meist beziehungsreich geschwiegen wird. So ist auch die Reaktion der Mutter auf das literarische Debüt der Tochter heftig: „Ich oder das Buch“. Mit der Begründung: „Mein Leben lang habe ich versucht, unsichtbar zu sein, sagte sie. Und dann kommst du und zerrst mich ans Licht“.
Erst Jahre nach dem Tod der Mutter ist es Fritz möglich, sich auf die Suche zu begeben, wenngleich die Zweifel und die jahrzehntelang eingeübten Tabumuster noch wirken, wie die Autorin reflektiert. Mithilfe von Tagebucheinträgen der Mutter, Besuchen in Polen und Recherchen in Archiven über die Gefangenenakte der Mutter, anhand der Erinnerungen an gemeinsame Aufenthalte in Polen sowie der entdeckten NSDAP-Mitgliedschaft des Großvaters, der als Schutzpolizist vielleicht sogar an einer Erschießung von Juden beteiligt war, sowie Fotos entfaltet Fritz ein Panorama aus Abhängigkeiten, Tabus und bleibenden Bezügen, die weit über die persönliche Geschichte hinaus Aufschlüsse ermöglichen. Traumata überleben, aber manchmal lassen sie sich auch überleben.
Fritz’ autofiktionale Erzählung Wie kommt der Krieg ins Kind, mit Recht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis nominiert, ist ein unbedingt lesenswerter Text. Diese generationenübergreifende Spurensuche ist weit mehr als eine literarische Familien-Archäologie über Gewalterfahrungen. Sie ist ein faszinierender Blick ohne Wertung und Schuldzuweisung in die deutsch-polnischen Schrecknisse, zugleich ist sie ein geschichtspolitisch zu lesender poetischer Großessay, der nicht zuletzt angesichts der Brutalitäten von Krieg, Flucht und Vertreibung in unseren Tagen zusätzlich nachdenklich macht. Und doch endet Fritz mit einem hoffnungsvollen Blick auf das Passbild der Mutter als Kind: „Ein Kind schaut mich an. Ein Kind, eingesperrt in ein Passbild, lächelt. Es lächelt alle ohne Unterschied an, wer mit welcher Absicht auch immer es betrachtet.“
Eine gekürzte und geringfügig geänderte Version ist am 30. August 2018 in der Sächsischen Zeitung, S. 9, erschienen.
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