Wo man sich über den Weg lief …

Gesellige Literaten in Münchner Salons

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die inzwischen von der Kritik arg zerzauste Habilitationsschrift von Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), erläutert unter anderem das Aufkommen der literarischen Salons, die für die gesellschaftliche und politische Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert enorm wichtig waren. Was ein Salon ist und was Geselligkeit genau bedeutet, ist gar nicht so leicht zu definieren. „Die Ideen von Geselligkeit, die dem Salonleben konzeptuell zugrunde liegen, sind historischen Veränderungen unterworfen, und damit auch die Gestaltung von Salons selbst“, schreibt Waldemar Fromm in seiner Einleitung zu einem sehr ansprechend gestalteten Sammelband, in dem sich ausgewiesene Expertinnen und Experten den bürgerlichen Salons Münchens in der Zeit von etwa 1820 bis 1933 widmen. Sein Hauptaugenmerk gilt den Literaten, die sich von der oft ausgesprochen großbürgerlich geprägten Salongeselligkeit angezogen fühlen. Doch lernt man auch eine stattliche Reihe von Personen aus den Bereichen der bildenden Kunst, der Musik, der Geistes- und Naturwissenschaft sowie der Wirtschaft kennen, darunter außergewöhnlich viele kluge und gebildete Frauen. Ohne sie ist die sich nach dem Vorbild der Berliner Salons von Henriette Herz und Rahel Varnhagen entwickelnde, dabei aber immer speziell süddeutsch grundierte Münchner Salonkultur überhaupt nicht denkbar. Dass sich das im 18. Jahrhundert propagierte und speziell in der Romantik zumindest in Ansätzen verwirklichte soziale Ideal einer stände- und klassenübergreifenden Kommunikation allmählich auch in der eher behäbigen Residenzstadt München durchsetzte, ist ganz wesentlich den wohlhabenden und kunstsinnigen Bürgerinnen dieser Stadt geschuldet.

In den 1820er-Jahren formierte sich ein christlich und romantisch gesinnter Zirkel um die Genre- und Landschaftsmalerin Louise Wolf, aus dem zahlreiche Werke der bildenden Kunst, der Musik und der Literatur hervorgingen – quasi parallel zur Entstehung des neuen, bald auch „Isar-Athen“ genannten München in der Regierungszeit Ludwig des Ersten. Laut Miriam Käfer, die diesen Zirkel im Detail vorstellt, war er einer der ersten literarisch-künstlerischen Salons der Stadt. Noch zutreffender ist dieses Attribut für den „Mittagstisch“, den die aus Basel stammende, seit 1824 in München Historienmalerei studierende und bald in den Familien Ringseis und Görres verkehrende Emilie Linder einrichtete – verehrt von Franz von Baader und Clemens Brentano, der ihr mehrere Liebesgedichte widmete. Waldemar Fromm stellt ihr kaum bekanntes mäzenatisches Wirken dar und widmet sich dabei auch den Brentano-Poemen Wo schlägt ein Herz, das bleibend fühlt? und An eine Feder.

Mit dem späteren Literatur-Nobelpreisträger Paul Heyse und dessen ruhmreichen Leben in und mit literarischen Salons beschäftigt sich Jan Stojanovic. Der 1830 in Berlin geborene Dichter, den König Maximilian II. auf Anraten Emanuel Geibels 1854 nach München holte und der sich seiner Wahlheimat bald eng verbunden fühlte, war ein wichtiger Teilnehmer der hier ebenfalls geschilderten Symposien des Königs und spielte sowohl als Gast wie auch als Gastgeber literarischer Salons vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine herausragende Rolle. Ganz so vergessen, wie Stojanovic meint, ist er gewiss nicht mehr – die Querelen um die Heyse-Villa in der Luisenstraße 22, die seit 1874 das „Zentrum der geistigen Gesellschaft in München“ war, und vor allem Hans Pleschinskis wunderbarer Roman Am Götterbaum (2021) haben ihn neu ins Licht der Öffentlichkeit gerückt.  

Die „Jours“ im Haus von Karl und Hanna Wolfskehl, in der Leopoldstraße 51 und seit 1909 in der Römerstraße 16, die mit Stefan Georges Etablierung als Dichter und mit dem Wirken der „Kosmiker“ um Alfred Schuler und Ludwig Klages eng verbunden sind, schildert Gabriele von Bassermann-Jordan. Ihr Essay führt eindrucksvoll und spannend vor Augen, wie der heute kaum noch gelesene Karl Wolfskehl „mehr und mehr zu einer der Integrationsfiguren im literarischen und gesellschaftlichen Leben Münchens“ wurde – Franz Hessel, Ricarda Huch, Rainer Maria Rilke, Friedrich von der Leyen, Norbert von Hellingrath, Emil Preetorius, Alfred Kubin, Else Lasker-Schüler, Regina Ullmann, Hans Carossa und viele andere Literaten trafen sich dort, und auch die Maler des Blauen Reiter hielten engen Kontakt zu den Wolfskehls.

Den ab 1899 in der Brienner Straße 8a angesiedelten Salon von Elsa Bernstein, in dem Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Max Weber, August von Kaulbach, Franz Stuck, Ludwig Thoma, Ludwig Ganghofer, Olaf Gulbransson und viele andere Künstler verkehrten, beleuchtet der Beitrag von Kristina Kargl. 1866 als Tochter der Prager Musikenthusiasten Porges in Wien geboren, musste die schon als junge Frau fast völlig erblindete Künstlerin 1887 ihre Schauspielkarriere aufgeben und begann bald darauf, Theaterstücke in naturalistischer Manier zu verfassen – unter dem 1891 gewählten, ihr Jüdisch- wie ihr Weiblichsein verbergenden Künstlernamen Ernst Rosmer wurde sie eine höchst erfolgreiche Dramatikerin.

Von 1891 bis 1910 schrieb Elsa Bernstein 14 Bühnenstücke, von denen die meisten in Berlin, München und anderen deutschen Städten erfolgreich aufgeführt wurden, außerdem Novellen und Gedichte. Fast alle ihre Werke wurden bei S. Fischer verlegt.

Dass diese später ins KZ Theresienstadt deportierte, 1949 gestorbene und im Grab des Vaters auf dem Münchner Ostfriedhof bestattete imponierende Frau und ihr Wirken wieder mehr beachtet werden, ist dringend zu wünschen.

Mit der bürgerlichen Frauenbewegung um Anita Augspurg und Sophia Goudstikker, die der künstlerischen Moderne sehr nahe stand, insbesondere mit den ihr zuzurechnenden Salons von Carry Brachvogel und Emma Haushofer-Merk befasst sich Ingvild Richardsen. Sehr begrüßenswert ist, dass Miriam Käfer auch die 1860 geborene Anna Croissant-Rust würdigt, das einzige weibliche Mitglied der 1890 von Otto Julius Bierbaum und seinen Freunden gegründeten und von Michael Georg Conrad geleiteten „Gesellschaft für modernes Leben“. Die zu Unrecht vergessene Schriftstellerin, die zunächst ihrem Ehemann ins ungeliebte Ludwigshafen folgte, konnte ab 1904 in der Pasinger Villenkolonie eine Art Salon etablieren, in dem sich die Bierbaums, Hans Erich Blaich alias Dr. Owlglass, Hans Brandenburg, Hedwig Lachmann, Gustav Landauer und andere Literaten tummelten.

Im letzten Beitrag geht Nikola Becker mittels autobiografischer Erinnerungsbücher der Münchner Literatengeselligkeit zur Zeit der Weimarer Republik nach – die „literarische Topografie“ jener Jahre zieht sich von der Ainmillerstraße (Isolde Kurz) bis in die Mauerkircherstraße (Bruno Frank), umfasst den für den Aufstieg Adolf Hitlers nicht unwichtigen Salon von Elsa und Hugo Bruckmann am Karolinenplatz, den ebenfalls zunehmend deutschnational geprägten Salon von Karl und Martha Haushofer in der Arcisstraße, den katholisch ausgerichteten Salon des Dietrich von Hildebrand in der Maria-Theresia-Straße und die Geselligkeit im Herzogpark, wo ab 1900 unter anderem Thomas Mann, Bruno Walter, Alfred Walter Heymel, Alfred Neumann, Hans Pfitzner und Robert Hallgarten mit ihren Familien lebten – hier haben Erika und Klaus Mann, Ricki Hallgarten und Pamela Wedekind ihre Auftritte.

Das anregende Buch kann nur eine Art Zwischenbilanz ziehen, und doch ist seine Lektüre zu empfehlen. Selbst wenn man rasch begreift, wie viel es zum Thema „Münchner Salons“ noch zu erforschen gilt und wie schwierig die Quellenlage dafür ist – man ist froh darüber, dass dieser mehr als ein Jahrhundert beleuchtende aspektreiche Sammelband nun allen Interessierten zugänglich ist.

Titelbild

Waldemar Fromm (Hg.): Münchner Salons. Literarische Geselligkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2021.
248 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783791732701

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