Interdisziplinäre neue Wege der Literaturanalyse im Deutschunterricht
Der Band „Literarische Grammatik“ versammelt neun Vorschläge zur Integration von Literatur und Grammatik
Von Ulrich Klappstein
Der französische Sprachphilosoph und Grammatikologe Jacques Derrida (1930-2004) veröffentlichte 1988 den Essayband Ulysses Grammophon: Zwei Deut für Joyce. Am Beispiel des Romans Finnegans Wake machte er mithilfe von differenzierten, formalsprachlichen Operationen auf das Phänomen der literarischen Hyperkomplexität aufmerksam, die sich in der grammatikalischen und semantischen Verschränktheit dieser ambitionierten Prosa zeigt.
Einen ähnlichen Versuch haben nun neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unternommen. Sie haben aus linguistischer, aber auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive in didaktischer Absicht fundierte Analysen ganz unterschiedlicher literarischer Werke vorgelegt. In dem Band sollen „Ideen, Beispiele, Anregungen und Diskussionsgrundlagen“ gegeben werden, um Literaturbetrachtung und sprachliche Analyse zu kombinieren und um Werkzeuge für den Unterricht in Schule und Universität bereitzustellen.
Was für die Analyse lyrischer Texte beinahe selbstverständlich erscheint – sprachliche Auffälligkeiten zu erkennen und die Leistung „verdichteter“ Sprache für mehrschichtige Bedeutungsoptionen zu würdigen – muss nach Auffassung der Autorinnen und Autoren auch bei der Betrachtung von Prosawerken Anwendung finden.
Das Verstehen von Grammatik an und mit Literatur macht grammatisches Wissen zu einem anderen als eines, das ausschließlich an grammatischen Übungen und mehr oder weniger isolierten Beispielsätzen erworben wurde. Die sprachliche Form kann als textwichtig erkannt werden und als ein Ausgangspunkt literarischen Verstehens. Und auch für etablierte linguistische Methoden kann es ein Gewinn sein, sich an literarischem Material beweisen zu müssen.
Am Beispiel von Bodo Kirchhoffs Roman Dämmer und Aufruhr (2018) beschreibt Vilmos Ágel das besondere Bedeutungsangebot ausgewählter Textstellen und untersucht mithilfe von grammatikalischen Modellierungen und formalen Analysen den „Zweitsinn“ des Romans, worunter Ágel die vom Erzähler für den Leser offengelegten Sinnangebote bei der Lektüre versteht.
Thomas Boyken stellt an verschiedenen Beispielen der Kinder- und Jugendliteratur heraus, wie die Materialität des Geschriebenen für narrative Funktionen eingesetzt werden kann, da – wie an einfachen Texten von Janosch, Franz Fühmann, Mattias Morgenroth und Marc Uwe Kling gezeigt werden kann – kinder- und jugendsprachliche Texte von gängigen grammatischen (und schriftsprachlichen) Strukturen oft stark abweichen.
Einen ähnlichen Ansatz wählen auch Nina Fuhrhop, Kendra Peters und Niklas Schreiber, die am Beispiel des niederländischen Romans Malva von Hagar Peeters der Frage nachgehen, wie ein „beinahe aussterbendes“ Satzzeichen, in diesem Falle ein Semikolon, innerdiegetisch bedeutungstragend werden kann. Jenseits der herkömmlichen Interpunktionslehre der Duden-Grammatik machen sie deutlich, dass von der (linguistischen) Funktion des Semikolons im Satz gleich mehrere literarische Funktionen abgeleitet werden können. Peeters’ Roman demonstriere, dass Satzzeichen, obwohl seine Protagnonisten „nichts über den Gebrauch des Semikolons wissen“, dennoch zur Verdeutlichung ihrer Handlungen eingesetzt werden können.
In seinem Beitrag über Anna Seghers’ Roman Der Ausflug der toten Mädchen verdeutlicht der Linguist Peter Eisenberg, der zwei viel beachtete Grammatiken des Deutschen vorgelegt hat, wie vor dem Hintergrund wechselnder Erzählinstanzen und -ebenen grammatische Auffälligkeiten eines literarischen Textes kontextualisiert werden können. Eisenberg untersucht besonders die Temporalität und den Einsatz von Adjektivattributen. Ein besonders gelungenes Beispiel dafür, wie an einem der bekanntesten Texte von Anna Seghers bereits vorliegende literaturwissenschaftliche Aussagen wort- und satzgrammatisch bestätigt (und gelegentlich bezweifelt) werden können.
Einen parallelen Ansatz legt Derya Yildrim vor, sie untersucht die Satzstruktur eines Textes am Beispiel von Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte Das Brot (1946) mit der Methode des „Grammatischen Varietés“ (nach Judith Macheiner). Ein im Schulunterricht häufiger Gegenstand literarischer Analysen erscheint unter völlig neuen Perspektiven, die zeigen, dass „deutsche Sätze sowohl kombinatorisch als auch konventionell eine Vielzahl an möglichen Zusammensetzungen“ erlauben. Yildrim gliedert ihren Beitrag in die durchaus konventionellen Analyseschritte für eine Kurzgeschichte: „Einführung in das Geschehen“, „Darstellung des Protagonisten“, „Kontextualisierung eines ungewöhnlichen Geschehens“ und – am Beispiel dieser Geschichte thematisch einleuchtend – „Verdrängung und Humanität im Kontext der Nachkriegszeit“. Mithilfe von Wortstellungstechniken (Austausch und Variation) kann jedoch das klassische Interpretationsschema durchbrochen und – so Yildrim – grammatisches Wissen nicht nur dargelegt und abgefragt, sondern sprachreflektorisch angewendet werden.
Vier Lyrikanalysen schließen sich an. Laura Bon wählt das Gedicht Kindergarten Lichtenberg, ein Lehrgedicht aus einem Gedichtzyklus von Marion Poschmann, Stefan Engelsberg und Irene Rapp analysieren das Gedicht Umflug von Wolfdietrich Schnurre – wenden sich metaphorischen sowie nicht-metaphorischen Lesarten von Genitivkonstruktionen und den metaphorischen Wirkungsmöglichkeiten von binären Nominalstrukturen zu. Ralf Grüttemeier beschreibt den Substantivgebrauch – eingesetzte Abstrakta und Kollektiva, Determination und Nicht-Determination – am Beispiel eines Gedichts von Jan Hendrik Leopold (1865-1925), einem der bedeutendsten Dichter im niederländischen Sprachraum. Sein Idiolekt wird vor dem Hintergrund der Übertragung seines Textes ins Deutsche sprachvergleichend analysiert.
Den Abschluss des Bandes bildet ein Grundsatzartikel von Renate Musan und Stefan Schneider, die zunächst noch einmal Ziele und Vorgehensweisen der Literaturanalysen im Deutschunterricht allgemein reflektieren, bevor sie ihre Vorschläge am Beispiel von Clemens Brentanos Gedicht Der Spinnerin Nachtlied exemplifizieren. Sie legen sprachorientierte Analysen vor, die in gängigen literaturwissenschaftlichen Interpretationen „viel zu wenig“ erwogen würden. Lerngruppen erhalten so die Chance, textanalytische Beobachtungen und deren Zusammenspiel eigenständig und kreativ umzusetzen. Es geht um Methoden, die unter dem Begriff „Concept Maps“ zusammengefasst werden. Die Spannbreite reicht vom traditionellen Mindmapping über das Clustering bis zu „Sketchnotes“, also von der einfachen Illustration bis zu ausgefeilteren Verfahren der Visualisierung. Erläuternd werden Abbildungen aus realen Unterrichtssequenzen geliefert, drei Beispiele für Concept Mapping einer 9. Klasse und zwei komplexere graphischen Textanalysen aus der Jahrgangsgruppe 12.
Alle vorgelegten Beiträge ermöglichen neuartige, integrative Herangehensweisen an ganz unterschiedliche Textgattungen, die Lernenden kreative Methoden an die Hand geben, das erworbene sprachliche Wissen auf literarische Gegenstände anzuwenden. Die Vorschläge sind oft herausfordernd, da sie neue Wege beschreiten, aber letztlich dürften sie sich als sehr motivierend erweisen, Brücken zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft zu beschreiten.
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