Der Student mit dem Revolver-Fetisch

Fuminori Nakamuras Literatur der neuen Lebensunzulänglichkeit

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Revolver, von dessen magischer Anziehungskraft die Novelle des in Japan als Autor des Noir-Genres bekannten Fuminori Nakamura (geb. 1977) handelt, zeigt seine Präsenz schon auf dem Buchcover, in Gestalt von Andy Warhols Gun – die ideale Einstimmung auf den Text. Die in flüssigem Deutsch übertragene Geschichte erschien im japanischen Original 2002 und stellt das Debütwerk Nakamuras dar. Sie handelt von einem in seiner Persönlichkeit noch nicht gefestigten jungen Mann, der durch Zufall auf einen verhängnisvollen Abweg gerät. Wer die Arbeiten Der Dieb (dt. 2015) und Die Maske (dt. 2018) gelesen hat, erkennt gemeinsame Motive – den vernachlässigten kleinen Jungen und die sich unaufhaltsam weiterdrehende Abwärtsspirale, in deren Sog sich der Protagonist befindet.

Ein lustloser Student in der Tradition des Dilettanten

Hauptakteur in Der Revolver ist Tôru Nishikawa. Von sich sagt er, sein Verhalten sei ihm oft ein Rätsel. Ruhelos bewegt er sich durch das Labyrinth der Stadt, was ihn antreibt, versteht er selbst nicht. Innere Unruhe und eine Art von Substanzlosigkeit zwingen ihn, nach Dingen zu suchen, die ihn erfüllen. Eigentlich ist er Student, welches Fach er belegt hat, bleibt unklar. Vermutlich Vergleichende Kulturwissenschaften oder Geschichte, denn die Vorlesung, die er zu Beginn der Erzählung besucht, beschäftigt sich mit der amerikanischen Kultur und der Globalisierung, wobei auch die Historie Japans nach 1945 sowie die Frage der japanischen Identität aufgegriffen wird. Thema einer späteren Vorlesung ist Kultur und Geschichte des Islam. Kommentar: „[…] was er da sagte, ging mich sowieso nichts an“.  Einig sind sich alle Studierenden darin, dass die Universität „so was von langweilig“ sei; es gäbe kaum etwas, das ihr Interesse wecke. Der Autor appliziert den Befund aber nicht als generelle Kritik an der akademischen Lehre, sondern verweist auf die Geistesverfassung der jungen Generation, der es schwerfällt, Worten Aufmerksamkeit zu schenken beziehungsweise einer wortbasierten Auseinandersetzung mit abstrakteren Inhalten etwas abzugewinnen. Gerade durch diese und andere Vermeidungsstrategien, Dinge jenseits der eigenen unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung wahrzunehmen, scheint es dem die Gegenwart repräsentierenden histrionischen Persönlichkeitstyp verwehrt, den sogenannten Sinn im Leben zu finden.

Nishikawa ist freilich ein besonderer Fall. Seine fehlende Motivation liegt auf einer tieferen Ebene begründet und führt in den Bereich der klassischen Psychopathologie. Mit der Schilderung der inneren Verfassung des Helden spannt der Autor einen Bogen von der Moderne um 1900 bis zur Jahrtausendwende um 2000. Hinweise auf die zeitliche Perspektive der Handlung gibt die Erwähnung der militärischen Aktionen Amerikas in Afghanistan – diese fanden im Rahmen des von den USA erklärten Kriegs gegen den Terrorismus statt, der nach den Anschlägen von 9/11 im Oktober 2001 ausgerufen wurde. Der Student verdrängt diese unerfreuliche Realität der Weltpolitik. Von der Warte des seelisch prekären und auf sich fixierten jungen Japaners aus widmet er sich vorrangig der Suche nach spannenderen, ihn erfüllenden Dingen. Gekennzeichnet ist der Protagonist vor allem durch seinen ennui, seine Ich-Schwäche und den permanenten Drang, sich Stimulanzien zuzuführen, seien es Kaffee, Zigaretten oder eben visuelle Berauschung an schönen Objekten. Eher seltener kann er sexuelle Interaktionen genießen und bei zwischenmenschlichen Kontakten Bereicherung empfinden. Insofern steht Nishikawa, der im Übrigen ein Adoptivkind, das heißt eine Pseudowaise ist, in einer Reihe mit anderen Figuren der japanischen Prekariatsliteratur, die eine neue zentrale literarische Strömung der Jahre 1998 bis 2008 bildete; oft beschreiben die Texte die problematische Psyche der traurigen Kinder einer „kalten Mutter Japan“. Die prekärliterarische Ebene trifft sich hier mit dem Noir-Genre, in dem der Held meist ein zum Scheitern verurteilter, schwacher Charakter ist. Andererseits wird es deutlich, dass der Autor an das Themenarsenal des alten fin de siècle anknüpft, wenn er im Revolver Konzepte wie eben den ennui, den Ästhetizismus und den Dilettantismus zum Einsatz bringt.

Hier bedient sich Nakamura einer Praxis der zeitgenössischen japanischen Literatur, die sich Ende der 1990er Jahre als weltliterarische Postmoderne formiert: Er wendet die Technik des Samplings an und ruft etliche Zitate aus Texten der westlichen und der japanischen historischen Moderne um 1900 auf. Es ist sicher kein Zufall, dass Der Revolver stellenweise an Motive und Szenen aus Hugo von Hofmannsthals (1874–1929) symbolistischer Geschichte Das Märchen der 672. Nacht (1895) erinnert: Ein junger begüterter Mann, der seine Eltern verloren hat, zieht sich aus der Gesellschaft zurück und pflegt eine ästhetizistische Todesobsession, die ihn durch einen Reigen von seltsamen Ereignissen treibt und die am Ende zur hässlichen Realität mutiert. Sogar einige Motivzitate – etwa das Pferdemotiv – lassen sich bei Nakamura entdecken, wenn man die komparatistische Spur verfolgen möchte. Noch wichtiger ist allerdings die Pose des Dilettantismus, auf die Der Revolver Bezug nimmt und die ihrerseits auf ein berühmtes Manifest der Jahrhundertwende zurückgeht, nämlich auf Poul Bourgets (1852–1935) Beitrag zur modernen Geistesverfassung in der Schrift Essais de Psychologie Contemporaine von 1883, in der von einer „disposition de lʼesprit, très intelligente à la fois et très voluptueuse“ die Rede ist. Als Dilettant ist Fuminori Nakamuras Nishikawa eine nicht uncharmante, starken Stimmungsschwankungen unterworfene Figur des Nichtgenügens. Ausgestattet mit signifikantem Suchtverhalten sowie mit einer besonderen Sensibilität, vor allem für das Schöne, will er im Leben mitmischen, obwohl ihm das nötige Potenzial fehlt.

Das Objekt der Begierde

Dem Autor gelingt es überaus gut, neoromantische Elemente mit postmoderner Attitude in einem geschickten Genre-Mix zu kombinieren. Angespielt wird in komparatistischer und literaturgeschichtlicher Perspektive auf Franz Kafka und Albert Camus, auf Osamu Dazais Niedergangsprosa im japantypischen Ich-Roman-Format, auf Kôbô Abes existentialistische Akteure, die sich ihrerseits durch labyrinthische Strukturen der Entfremdung und Absurdität kämpfen, vermutlich zudem auf Haruki Murakamis Dauerhelden Tôru und dessen Konflikt zwischen der Frau für die Lust und dem edlen Seelenschwester-Fräulein.

Der Revolver verfügt über eine raffinierte Palimpseststruktur, innerhalb derer immer wieder die einzelnen Motive und Denklinien aufblitzen. Eine fetischistische Position macht sich etwa bemerkbar, wenn der Protagonist seine Obsession, die Waffe, kommentiert. Nishikawas Faszination im Hinblick auf den Revolver, den er neben einem unbekannten Toten fand, speist sich zum einen aus einer sich dem Helden sofort vermittelnden Ästhetik der bedrohlichen Perfektion. Zum anderen steht der Revolver offenbar in enger Beziehung mit seinem latenten Wunsch, die Eltern, die ihn als Kind im Stich gelassen hatten, zu töten. Wichtig dabei ist das Moment der verdrängten Vergangenheit, die eine traumatische Dimension besitzt; aus dieser resultiert auch der Unwille des Helden, die problematischen Umstände seiner Kindheit überhaupt erst zur Kenntnis  nehmen zu wollen, um sie in einem Folgeschritt zu bewältigen und die anstehende Reifung seiner Persönlichkeit zu vollziehen. Indem der introvertierte Student den Revolver zu seinem Fetisch macht, entwickelt er sozusagen eine klassische Beziehung zu diesem Objekt. Mit dem Historiker Johannes Endres (Grundlagentexte, 2017) wäre festzuhalten, dass der Fetisch ein „kostbarer Schatz der Bedeutsamkeit im Ozean einer von Angst, Wertverlust und Sinnlosigkeit erfüllten Welt“ sei, was ihn zu einem Krisenphänomen mache.

Auf einer weiteren Ebene symbolisiert die Waffe „Amerika“ und die vom Siegerland des Zweiten Weltkriegs verkörperte Macht über den Verlierer Japan. Diese Korrelation eröffnet den Raum des Allegorischen und erklärt schließlich auch die mehrfach geäußerten Minderwertigkeitsgefühle, die der Student gegenüber dem Colt empfindet: Dieser versetzt ihn in die Rolle eines Kindes, das seinem tatmächtigen geistigen Vater Amerika ebenbürtig werden möchte, während es zugleich seinen unwürdigen japanischen Eltern nach dem Leben trachtet. Die Waffe hält den Finder in ihrem Bann, fordert schließlich Handlung ein, will zum Einsatz kommen. Er erliegt dem verhängnisvollen Zauber vor allem deshalb, weil er sich ihr gegenüber nicht behauptet.

Peng!

Sein Erfolg bei Frauen bietet Tôru Nishikawa keine Alternative. Er steht, wie bereits erwähnt, einem Helden von Haruki Murakami nicht unähnlich, zwischen zwei Frauen – eine dient ihm zur Befriedigung der sporadischen fleischlichen Bedürfnisse, bei der anderen, Yûko Yoshikawa, spürt er tatsächlich tiefere Gefühle aufkeimen. Zu einer reifen Liebesbeziehung ist er aber nicht fähig. In entscheidenden Momenten kommt die für ihn typische Unzulänglichkeit zum Vorschein. Frau oder Revolver? Der schwache Held scheut die Konfrontation mit dem, was ihm die Anima zu sagen hätte. Warnende Stimmen ignoriert er schon seit geraumer Zeit, auch die in ihm vorhandene Disposition zum „Guten“. Kennzeichnend für sein Versagen ist der Abbruch jedes Denkvorgangs, die Hingabe an den Augenblick. Die schwelende Aggression bahnt sich ihren Weg. Destruktive Tendenzen dominieren nun seine Handlung. Er drückt ab. Werden die Kugeln am Ende reichen?

Titelbild

Fuminori Nakamura: Der Revolver. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
185 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070613

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch