Essen, Düsseldorf und zurück

Lisa Roys Debüt „Keine gute Geschichte“ überzeugt nicht nur mit treffenden Beobachtungen

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das ist keine gute Geschichte. Verschwundene Mädchen brauchen eine andere Kulisse. Frei stehende Einfamilienhäuser mit Carports, eine tapfere Mutter, die neben ihrem Ehemann steht und den Lieblingsteddy ihrer Kleinen festhält.“ Mit diesen drei Sätzen macht die 1990 in Leipzig geborene und im Ruhrgebiet aufgewachsene Lisa Roy gleich mal klar, worum es in ihrem Debüt nicht geht. Es geht nicht um wohlsituierte Bilderbuchfamilien. Denn der Großteil dieses mit vielen klar akzentuiert gezeichneten Figuren versehenen Buches spielt im Essener Stadtteil Katernberg, wo die Protagonistin Kindheit und Jugend verbracht hat. Von Meryem Güçlü, Katernbergerin und dort als Sozialarbeiterin tätig, erhält Arielle Freytag, die es geschafft, sich heraus gearbeitet hat und in Düsseldorf angesagt lebt, einen Anruf.

So schnell kann es gehen, so schnell ist man via Erinnerung wieder an den Orten und in den Gefühlen der Kindheit, ist alles wieder da. Meryem bittet sie um die Unterstützung ihrer, Arielles, Großmutter (eine unfreundliche alte Dame, die mit einer Schar Nacktkatzen eine typische kleine Hochhauswohnung bewohnt), die einen Oberschenkelhalsbruch erlitten hat. Es wäre gut, sie würde sich in den kommenden Tagen um sie kümmern. Praktisch, dass Arielle zur Zeit nicht in ihrer Social Media-Agentur ist, weil sie nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie noch krank geschrieben ist. Tatsächlich packt sie direkt danach ihren Koffer.

Ansatzlos wechselt Lisa Roy die Erzählstimme, spricht ein „Du“ an, von dem man als Leser erst einmal nicht weiß, wer gemeint ist. Doch schnell wird klar, es muss sich um ihre Mutter handeln, ihre Mutter, die verschwand, als das Mädchen acht Jahre alt war und fortan bei Varuna, ihrer eigenwilligen Großmutter, aufwuchs („Ich packe meinen Koffer. Das war unser Lieblingsspiel, weißt du noch?“). Dass sie in diesen Dialogen mit der abwesenden Mutter das Präsens verwendet, legt nahe, dass die junge Frau, die wegen einer Depression klinisch behandelt wurde, diesen Verlust nicht verarbeitet hat und noch immer in der Hoffnung oder gar Überzeugung lebt, ihre Mutter wäre noch am Leben. Doch das wiederum kann sie sich auch nicht vorstellen, da sie sich ganz sicher ist, dass ihre Mutter, deren Liebe in ihrer Erinnerung unermesslich groß war, sie nie verlassen hätte. Ein Dilemma.

Nun also wieder Essen-Katernberg, wo sie in ihr altes Jugendzimmer zieht, was naturgemäß noch einmal ganze Tsunamis an Erinnerungen und Gefühlen auf sie zurollen lässt. An dieser Stelle und an diesem Ort, der ja ohnedies schon maximal belastet ist, bringt Lisa Roy noch eine weitere Geschichte unter. Zwei Mädchen im Alter von neun Jahren sind verschwunden, seit Tagen gibt es im Viertel kein anderes Thema, überall hängen Zettel und Plakate, die Nachbarschaft ist auf den Beinen, um in Suchtrupps die Gegend zu durchkämmen.

Man könnte annehmen, der knapp 240 Seiten umfassende Roman würde unter diesen massiven und schwierigen Themen zu zerbrechen drohen und mit ihm die traumatisierte und noch nicht wieder hergestellte Hauptfigur. Doch die souveräne Autorin ist immer Frau der Lage, hat ihr Material, ihre Themen, ihre Figuren bestens im Griff und schafft es, mit schnoddriger Leichtigkeit, frischem, manchmal auch derbem Witz und genau dosiertem Tempo, die Geschichte auf Betriebstemperatur zu halten. Wie eingangs erwähnt, stellt sie Arielle eine bunte Schar an weiteren Personen zur Seite, unter anderem John, den Vater eines der verschwundenen Mädchen. Mit ihm raucht sie Joints, hat Sex und weiß nicht so richtig, ob sie das überhaupt möchte, ob sie bereit ist für eine Bindung.

Immer wieder balanciert Arielle auf dem Grat zwischen Katernberg und ihrem vorherigen Leben in Düsseldorf, schaut bei Instagram nach den Reichen und Schönen und lässt so Leser und Protagonistin in der Schwebe, wie ihre Zukunft aussehen wird. Lisa Roy gelingen viele sehr treffende Szenen, die mal beißend ironisch, mal albern und dann wieder ernüchternd den Alltag in einem Quartier zeigen, das eben nicht – siehe oben – von Einfamilienhäusern und Wohlstand geprägt ist. Doch Lisa Roy zeigt ihr Romanpersonal sehr differenziert und wohl an eigener Erfahrung geschult, sie respektiert die Menschen, die dort leben, beschönigt und verklärt nichts, macht aus ihrem Schauplatz aber auch kein pittoreskes Prekariatsviertel. Keine gute Geschichte ist eines der ganz starken Debüts dieses Jahres, ein sehr lohnendes Buch, das prima in eine Reihe ähnlicher Bücher von Esther Schüttpelz, Annika Büsing und Caroline Wahl passt.

Titelbild

Lisa Roy: Keine gute Geschichte.
Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2023.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003456

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