Mit dem zweiten sieht man oft auch nicht besser (aus)

Marjana Gaponenkos unterhaltsamer „Bibliothekarsroman“ „Der Dorfgescheite“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Auffälligkeiten, Äußerlichkeiten, vielleicht sogar kleine Entstellungen, einen für andere interessant machen können, ist bekannt. Das weiß auch Ernest Herz, der Held in Marjana Gaponenkos neuem Roman Der Dorfgescheite. Ein Bibliothekarsroman. Denn der einäugige Bibliothekar, der als Kind durch einen Silvesterböller ein Auge verloren hat, nutzt seine verwegene, draufgängerische Erscheinung, die ihm seine Augenklappe offenbar verleiht, lange für seinen erotischen Erfolg bei den Frauen, ganz nach dem Motto: Mit dem zweiten Auge sieht man oft auch nicht besser aus. Und so kann er über eine lange Liste amouröser Begegnungen akribisch Buch führen:

Es waren Hunderte, wenn nicht Tausende. Nichts blieb von ihnen außer einem Karteikarteneintrag im Geheimfach von Ernest Herzʼ Rollsekretär. Ab und zu blätterte er in dieser als Zettelkatalog angelegten Datenbank und sah sie alle vor sich, Kolleginnen, Passantinnen, Kellnerinnen, eine Tierschützerin mit erdigen Augenringen, eine Clowndame, dessen (!) süßes Kinderlächeln ihre schiefen Zähne vergessen ließ, eine Lehrerin, die alles besser wusste, obwohl sie einen Bildungsradius wie eine Wohnungskatze hatte, eine Schaffnerin, die, bevor sie unter seine Decke schlüpfte, ein paar Seiten in einem der Codices las, die sich auf Ernest Herzʼ Nachtkästchen türmten.

Doch mit den vielen und auch anstrengenden Herzensangelegenheiten, die Ernest nur solange pflegt, bis die jeweilige Gespielin seine Augenklappe lüften will, soll nun Schluss sein. Der sich die Maße und das jeweilige Parfüm seiner Herzensdamen notierende Herz zieht sich zwar nicht auf ein Schloss zurück wie weiland Casanova als Bibliothekar, sondern in ein Kloster. Im Augustiner Chorherrenstift in W. soll er als Leiter der Bibliothek die Digitalisierung des Bestandes übernehmen, sogenannte „Digitalisate“ anfertigen. Am Martinstag, an dem der Karneval beginnt, trifft er am „zweigleisigen Bahnhof von W.“ ein. Kaum aus dem Bahnhof heraus, richtet sich sein Blick auf das Bordell, das aussieht wie „ein Gebäude der freiwilligen Feuerwehr“, jedoch durch die Schrift „Teufelinnen heiß wie Feuer, 24 h“ seine wahre Bestimmung enthüllt.

Wie um das Kloster herum, so sind auch im Kloster selbst Schein und Sein oft zweierlei. Auch hier gilt: Mit dem zweiten Blick sieht man oft besser, wie Ernest Herz, der Spezialist für mittelalterliche Handschriften, bald feststellt. Er trifft auf eine Reihe skurriler, schrulliger Gestalten und nicht minder dubioser Vorgänge. Es ist ein kurioses Publikum an verschrobenen, zwielichtigen und kauzigen Personen, das Gaponenkos Roman versammelt: Ein homosexueller, neugieriger Portier namens Egilmar Gröbchen, ein nach Mottenkugeln riechender Prälat, ein älterer Telefunken-Radioapparat, der nur „Radio Gabriel“ spielt, wie auch die Telefonanlage dann irgendwann in „Radio Gabriel“ einstimmt, der trinkende Hauselektriker Herkulan Plochinger, der exkommunizierte Klosterverwalter Schmalbacher, Herzʼ demente Eltern und andere. Mysteriös auch Herzʼ Vorgänger Mrozek, ein pädophiler Pole, der sich in den „Lammengel“, den hermaphroditischen Kellner Raffael mit autistischen Zügen im Likörrestaurant verguckt hat, hat sich selbst aus dem Leben befördert, indem er sich brennend aus dem Fenster stürzte, nicht ohne vorher noch die Gardinen abzunehmen. Im Aschekasten seines Zimmers findet Herz bald ein wertvolles Manuskript des Mittelalterbestsellers Dialogus Miracolorum des Cäsarius von Heisterbach, das vermutlich nicht aus der Klosterbibliothek stammt, sondern von Mrozek dort versteckt wurde.

Was es damit auf sich hat, löst Gaponenko nach verschiedenen Volten und falschen Fährten am Ende auf, nicht ohne auf dem Weg dahin augenzwinkernd eine Reihe von literarischen Anspielungen zu machen. Umberto Ecos Name der Rose beziehungsweise eine „Donna Rosa“ eines gewissen Hubertus Eck wird erwähnt. Die Parfüm-Obsession des Bibliothekars lässt an Patrick Süskinds Erfolgsroman denken, wie die Selbstverbrennung Mrozeks auf Elias Canettis Autodafé in der Blendung anspielen mag.

Es sind eine Fülle von Einfällen, die die 1981 in Odessa geborene und mehrfach ausgezeichnete Gaponenko, die zwischenzeitlich nach Stationen in Dublin und Krakau in Mainz und Wien lebt, mit ihrem Hang zu skurrilem Personal und Situationen, dem sie ihrem „Bibliothekarsroman“ einmal mehr frönt, ausbreitet. Der Dorfgescheite lebt vom Witz, von Pointen, von Manierismen und am Schluss auch von einer gewissen Krimispannung, wenngleich ihm auf den zweiten Blick ein tieferes theologisches wie philosophisches Mittelalterverständnis fehlen mag. Aber vielleicht muss das bei guter Unterhaltung, die im Hier und Jetzt spielt, auch gar nicht sein. Vielleicht sieht man ja mit dem und auf den zweiten Blick auch nicht immer besser (aus).

Titelbild

Marjana Gaponenko: Der Dorfgescheite. Ein Bibliothekarsroman.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
287 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406726279

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