Noch einmal das Abendland retten
Klaus Garber widmet sich den Schäfern, dem Landleben und der Idylle
Von Klaus Hübner
Mit dem „alten Europa“ war es 1789, spätestens aber 1815 vorbei, auch wenn es das 19. Jahrhundert immer noch merkbar prägte und sein Echo bis heute nicht ganz verhallt ist. Ähnlich erging es dem Gegenstand, dem sich der 1937 geborene Osnabrücker Emeritus Klaus Garber in seinem jüngsten Buch widmet: „Die Schäfer-, Landleben- und schließlich die schäferlich-ländliche Idyllendichtung gelangt zusammen mit dem alten Europa eben zu jenem Zeitpunkt an ihr Ende“, stellt der Verfasser fest (S. 284), und im Grunde habe ihr Niedergang schon vorher, in der Epoche der Empfindsamkeit begonnen, in der sich „das Bewusstsein für die konstitutive Rolle der Allegorie in der Hirtendichtung“ allmählich verloren habe (S. 17). Begonnen habe die Schäferdichtung, „die vitalste Form“ der in der Einleitung näher explizierten Dreiergruppe von Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung, gut zwei Jahrtausende früher: „Auf den Zeitraum der Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert vor Christus ist die Geburt der Gattung zu datieren, sie verbindet sich also mit dem Wirken Alexanders des Großen und seinem Nachleben“ (S. 15).
Eine zentrale Gattung der europäischen Literaturgeschichte auf 288 Textseiten so vorzustellen, dass daraus eine anregende Einladung zum Lesen ihrer Manifestationen wird, darf man ein wahrhaft gewaltiges Vorhaben nennen, und ein wenig zeitgemäßes dazu. Klaus Garbers Thema mag alles Mögliche sein, aktuell scheint es jedenfalls nicht. Oder doch? Schließlich kann man die hier vor Augen geführte Dichtung auch und vor allem als Utopien-Schatzkammer verstehen, in der Formen eines harmonischen Umgangs der Menschen miteinander wie mit der Natur gestaltet werden – als unabgegoltenes Versprechen des „alten Europa“, nämlich als Verheißung menschheitlichen Zu-Sich-Kommens im Einklang mit einer bewahrten und gehegten göttlichen Schöpfung.
Das wäre in Zeiten der Konjunktur des „nature writing“ dann doch aktuell. Jedenfalls muss man dieses vielleicht nur scheinbar abwegige Thema attraktiv und reizvoll präsentieren, und das weiß der unglaublich belesene Initiator des Osnabrücker Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, der seit Langem an einer dreibändigen Geschichte der europäischen Arkadien-Utopie arbeitet, natürlich genau. Einer der zum Aspekt der Utopien-Schatzkammer gehörigen und zugleich darüber hinausweisenden Attraktivitätsfaktoren seines Gegenstands ist der europäische, der im allerbesten Sinne abendländische Horizont, der sich hier auftut und entfaltet. Die Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung führt von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende jegliche nationalsprachliche Begrenztheit ad absurdum, und damit naturgemäß auch jede nationale. Auch das mag sie unerwartet aktuell machen.
Ein weiterer Punkt zählt ebenfalls zu den Reizen von Garbers Studie: Der Tatsache Rechnung tragend, dass dieser Dichtung grundsätzlich nur interdisziplinär beizukommen ist, führt der Verfasser vor, wie eine komparatistisch arbeitende, die engen Grenzen der akademischen Disziplinen souverän überschreitende Literaturgeschichte heute aussehen könnte. Wie er das macht, in was für einer Art von Wissenschaftssprache er das tut, ist freilich höchst bemerkenswert. Klaus Garber konfrontiert seine Leserschaft anno 2021 mit einer Wissenschaftsprosa, die ältere Semester vielleicht noch aus den Werken von Benno von Wiese, Fritz Martini oder Friedrich Sengle kennen, einem Sprachduktus also, der seit den späten 1960er-Jahren immer seltener geworden ist. Auf jeden Fall hat man sich an den hier durchgängig herrschenden, keineswegs ohne selbstgefällige Eitelkeit vorgetragenen Großordinarien-Wir-Gestus erst wieder zu gewöhnen. Auch an die zahllosen mit einem selbstbewusst-kräftigen „Und“ beginnenden Sätze, die enge Zusammenhänge selbst dort nahelegen, wo sie nur schwerlich ersichtlich sind.
Nicht nur in der abendländischen Literatur treiben Hirten und Schäfer, Bauern und Landleute ihr Wesen, auch in der Malerei, in der Musik und auf dem Theater findet man sie häufig. „Was Alteuropa war, umspielt von Bildern und Verheißungen des Glücks, erfährt man am schönsten und genauesten über diese niederen Wesen“, behauptet Garber. „Mit ihrem Eingang in die schönen Künste erfahren sie eine Verwandlung, kraft derer sie mehr und anderes sind als jene schlichten Figuren in der Wirklichkeit“ (S. 9). Profitiert habe die Schäfer- bzw. Hirtendichtung davon, dass ihre Protagonisten bereits im Alten und Neuen Testament eine wichtige Rolle spielen und sich „zentrale theologische Bilder und Vorstellungen“ an sie knüpfen (S. 23) – man denke an Abraham, Abel, Lot, Moses oder David, an das Gleichnis vom guten Hirten oder an die Weihnachtsgeschichte. „Ohne Wissen um die biblisch-geistliche Fundierung des Hirtentums kein angemessenes Verständnis weder der geistlichen noch der weltlichen Schäferdichtung“ (S. 24f.). Zum biblischen Traditionsarsenal tritt das mythische der Antike: „Ob Pan oder Hermes, Apoll oder Orpheus, Artemis oder Demeter – sie alle verbindet der Archeget der Bukolik, der schöne Hirte und Sänger Daphnis“ (S. 27).
Die textuell gesicherte Geschichte der Hirtendichtung beginnt mit Theokrit, und so gilt ihm und seiner Zeit auch ein längeres Kapitel. Zum „eigentlichen Ahnherrn der europäischen Bukolik“ (S. 37) allerdings sei nicht er, sondern der aus Mantua stammende Vergil geworden, in dessen erster Ekloge jener Kontakt zwischen Hirten und Herrscher hergestellt werde, der über Jahrhunderte für diese Art von Poesie konstitutiv und fruchtbar gewesen sei. Die Dichtungen von Vergil und Horaz, dem dritten Ahnherrn der Gattung, erhalten den ihnen zukommenden Raum. „In Gestalt der Schäfer- und Landlebendichtung, der ‚Eidyllia‘ und ‚Eclogae‘ sowie des ‚laus ruris‘ und der ‚Georgica‘ haben die drei antiken Archegeten der europäischen Literatur ein Terrain erobert, das sich selbständig neben Lyrik und Drama, Epik und Roman behaupten wird“ (S. 50).
Unterfüttert von jenem ungeheuren Detailwissen, das auch zahlreiche andere Studien Klaus Garbers auszeichnet – zum Beispiel seine voluminöse Arbeit über Das alte Breslau –, schreitet die Gattungsgeschichte voran. Zunächst wird die Überführung der antiken Hirten- und Landlebendichtung ins jüdisch-christliche Europa skizziert, für die Carmina des Endelechius entscheidend sind, aber auch die karolingischen Eklogen aus dem Umfeld Karls des Großen. Dann geht es zur Ecloga des Theodulus, der „vielleicht berühmtesten Ekloge des Mittelalters“ (S. 73), weiter zu Dante, Boccaccio und Petrarca und schließlich hinein in die Frühe Neuzeit, in der nicht nur die Gattung zu ihrer vollen Entfaltung gelangt, sondern in der auch Klaus Garber zu Hause ist wie kein Zweiter. Er erörtert die Geburt des Schäferspiels aus dem Geist der Musik, analysiert sehr ausführlich Tassos Aminta, das erste und schönste, auf immer mit dem Hof von Ferrara verbunden bleibende Schäferspiel (S. 108), dann Guarinis Pastor fido und Sannazaros mit einer großen Totenklage endende Arcadia, die den Hof von Neapel in der europäischen Bukolik sichtbar machte.
Auch der beträchtliche Anteil Spaniens an der Entwicklung der Gattung kommt zur Sprache – Montemayor, Lope de Vega und natürlich Cervantes, der in seinen Don Quijote bekanntlich die hinreißende Episode um die Schäferin Marcela eingerückt hat. „Ein Brentano, ein Tieck, die Schlegels und wie sie heißen wussten, was sie an diesem Autor hatten, seine ‚Galatea‘ eingeschlossen“ (S. 144). Der Beitrag Englands wird durch die Ausführungen zu Edmund Spensers Eklogenwerk und Philip Sidneys Arcadia veranschaulicht, und der Frankreichs durch das ausführliche Kapitel über Honoré d’Urfés ab 1607 in fünf Teilen erscheinende Astrée, den womöglich bedeutendsten europäischen Schäferroman, dem einst auch Norbert Elias ein Kapitel seiner Höfischen Gesellschaft gewidmet hatte, vollzog sich doch im Zeichen der Astrée „ein Gutteil höfischer Selbstinszenierung“ (S. 160). Die für Klaus Garber charakteristische Verschränkung von strukturaler Textanalyse und sozialgeschichtlicher Kontextualisierung der Werke zeigt besonders in diesen Abschnitten ihre erkenntnisstiftende Kraft.
Schließlich geht es auf rund hundert Seiten hinein in den deutschsprachigen Raum, und mit Blick auf den Zwang zur Konzentration leuchtet das auch ein, selbst wenn Europa natürlich noch weit mehr Sprachen und Literaturen kennt als die hier behandelten. In den Gelehrtenkreisen der großen und vornehmlich oberdeutschen Städte geht der Verfasser dem Fortleben der deutschen und neulateinischen Schäfer- und Landlebendichtung nach, zunächst im Erfurter Humanisten- und Bukolikerkreis um Eobanus Hessus. Bemerkenswert: „Die Hirtendichtung versteht sich bei diesen Erfurtern durchaus als Organ des kleinen, niederen Volkes, dessen Sorgen und Nöte zum Ausdruck gebracht werden möchten. Immer wieder geraten geschundene Wesen als Opfer adliger Herrschaft ins Visier“ (S. 168). Auch der Südwesten mit Heidelberg, Straßburg, Basel und Stuttgart, der Osten mit Prag, Breslau und Danzig sowie der mitteldeutsche Raum, der Hof zu Köthen etwa, trugen zur Entwicklung der Gattung bei – prägnant herausgearbeitet werden die Verbindungen der dort entstandenen Dichtungen zur europäischen Renaissance und zur reformatorischen Bewegung.
Heute so gut wie nicht mehr gelesene Poeten werden meist derart eindringlich dargestellt, dass man sich selbstkritisch fragen muss, weshalb man sie bisher nur am Rande wahrgenommen hat: „Das pastorale Werk Weckherlins steht singulär da im Zeitalter […] Worte und Sentenzen von Rabelaisscher Wucht im lyrisch-aphoristischen Kurztakt“ (S. 179f.). Es gebe keine Form im reichen Strauß schäferlicher und ländlicher Literatur, der Martin Opitz nicht seine Aufmerksamkeit zugewandt habe, und sogar als Neuerer sei er hervorgetreten, nicht nur mit seiner Schäfferey von den Nimfen Hercinie (1630) – ja, Opitz wird als „entscheidender Schrittmacher“ charakterisiert, der mit seinem Werk „die Literatur und Kultur der Deutschen nach Europa zurückgeführt“ habe (S. 191). Die Schäferdichtung sei im Katholizismus „tief verwurzelt“, wofür unter anderem die Werke von Friedrich von Spee, Daniel von Czepko und Angelus Silesius stünden (S. 195), doch überwinde die Gattung spätestens im 17. Jahrhundert ständische und konfessionelle Grenzen.
Aus dem gesprochenen Schäferspiel heraus entwickelte sich die Schäferoper, auch der Roman nahm das Figuren- und Motivrepertoire des Schäferlichen in sich auf, und die in Nürnberg aktiven pegnesischen Dichter, allen voran Sigmund von Birken, variierten und erweiterten das Genre. „Fortschreiben und Umschreiben lautet das Gesetz, unter dem die Schäfer- und Landlebendichtung des 18. Jahrhunderts gewürdigt sein will“ (S. 235f.). Die Gestaltung dieser Dichtung änderte sich permanent, insbesondere aber gegen Mitte des neuen Jahrhunderts. „Der geräumige Schäferroman und das fünfaktige Schäferdrama werden umgebaut zur schäferlichen Erzählung und zum vielfach einaktigen Schäferspiel. Umgekehrt erfährt die Ekloge eine Erweiterung in Form einer Um- und Ausgestaltung“, wobei sie ihre Wurzeln „immer noch in der ehrwürdigen antiken Ausprägung“ finde (S. 254).
Im literarischen Rokoko tauchten die Schäfer und Landleute meist im höfischen Gewand des Ancien Régime auf, bei Friedrich von Hagedorn etwa oder in den scherzhaften Liedern von Johann Wilhelm Ludwig Gleim, und mit Goethes in den 1760er-Jahren entstandenem und erst knapp vierzig Jahre später gedrucktem Stück Die Laune des Verliebten, ursprünglich als Amine geplant, liege ein „Kleinod schäferlicher Dichtung“ vor (S. 251). In jener Zeit habe sich eine exklusive Lese- und Kunstgemeinschaft im Zeichen sittlichen und seelischen Adels herausgebildet, in der auch „die Vision einer alle Menschen umfassenden großen Familie“ aufscheine. „Wer aber ist über Tradition und also über Literatur seit eh und je dazu auserkoren, diesem Glück sein Bildnis zu leihen? Niemand anders als der Hirte“ (S. 259). Die im Jahrhundert der Aufklärung immer deutlicher zu vernehmende „Botschaft geläuterter Humanität“ (S. 260) sei häufig im Gewand der Schäfer-, Hirten- und Landlebendichtung aufgetreten. Salomon Gessner wird herausgehoben mit seiner Schäfererzählung Daphnis (1754) und seinen Idyllen, auch Ewald von Kleist mit seinem Frühling (1749). Bis dann, in den 1770er-Jahren, das Schäferwesen als nutzlose und rückwärtsgewandte Tändelei kritisiert wurde und ins Zentrum der Polemik geriet – die hehre Gattung wurde abgetan und diskreditiert, von Herder bis Hegel, auch wenn sich die Idylle noch einmal quasi neu erfunden habe, wie Klaus Garber vor allem am Werk von Johann Friedrich Müller, genannt Maler Müller, und dem des Johann Heinrich Voß zu zeigen vermag.
Nach 1789 habe sich das Gattungsreservoir zunehmend erschöpft, und die kurz zuvor entstandenen, erst 1795 unter dem Titel Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen vereinigten Gesänge galten bald, gegen die Intention ihres Verfassers, als Inbegriff einer Gattung, die der allgemeinen Politisierung nur das idyllische Glück im Winkel entgegenzusetzen hätten. Im berühmtesten Werk der bürgerlichen Idylle, Goethes Hermann und Dorothea, mit dessen Erörterung Garbers Parforceritt durch die Jahrhunderte sein Ende findet, sei die Revolution definitiv gescheitert, und Goethes bis weit ins 20. Jahrhundert vielgelesenes Opus sei vollkommen „darauf geeicht, einen politikfreien oder besser: einen revolutionsfreien Raum zu statuieren“ (S. 279). Dieses bis heute berühmteste Zeugnis der Gattung in Deutschland war, so Garber, ganz klar ein „gegen die Revolution gerichtetes“ (S. 282). Dass das der europäischen Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung entstammende Motiv des Goldenen Zeitalters das gesamte Werk des Novalis durchdringt – wie vor allem Hans-Joachim Mähl dargelegt hat – und dass es eine Nachgeschichte arkadischer Bildlichkeit bis hin zu Walter Benjamin und Ernst Bloch gibt, wird am Ende leider nur sehr kurz erwähnt.
Über Klaus Garbers Begrifflichkeit und Wissenschaftssprache, auch über die innerhalb seiner gewaltigen Stoffmassen vorgenommenen Gewichtungen und natürlich über manche Details seiner Textanalysen wird man gewiss noch trefflich streiten. Dass es aber einem exquisiten Kenner der Materie mehr als hundert Jahre nach Oswald Spengler bravourös gelingt, durch seine souveräne Darstellung der europäischen Schäfer-, Landleben- und Idyllendichtung das Abendland noch einmal zu retten, wenigstens ein Stück weit, das darf man angesichts der grassierenden Geschichtsvergessenheit im Lande, mit Verlaub, ein großes Glück nennen.
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