Vom (Un)Wert des Abfalls

Christina Gehrlein reflektiert erzählerische „Abfallverbindungen“ in ihrer gleichnamigen Studie

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist Abfall in der Literatur nur wertloser, nicht zu beachtender Müll? Oder sind Plastikstühle, alte Lumpen, Ruinen etc. in den Texten ganz bewusst platziert? In der überarbeiteten und gekürzten Fassung ihrer Dissertation Abfallverbindungen. Verworfenes und Verwerfungen in Erzähltexten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur leuchtet Christina Gehrlein die verworfenen Realitätspartikeln unserer Konsumgesellschaft sehr präzise aus.

Mit dem Abfall in der Literatur befasst sich bereits der von David-Christopher Assmann, Norbert Otto Eke und Eva Geulen herausgegebene und 2014 erschienene Sammelband Entsorgungsprobleme: Müll in der Literatur. Trotz dieser wertvollen Beiträge war der Forschungsstand zum Abfall in der Literatur bisweilen recht dünn. Gehrlein erfüllt nun mit ihrer umfassenden Studie ein wichtiges Desiderat.

Zum Ausdruck kommt dabei die kulturelle Dimension von Verworfenem und Verwerfungen, vom Wandel und Transformationen (vermeintlichen) Abfalls. Und auch die soziokulturelle Relevanz wird nicht vernachlässigt: „Kunstwerke und Abfälle haben gemeinsam, dass sie gesellschaftliche Norm- und Wertvorstellungen stabilisieren und zugleich herausfordern, je nach Kontext Begeisterung oder Abwehr und Ekel hervorrufen.“ Gehrlein betrachtet wiederum künstlerische Reflexionen, stellt dar, wie literarische Texte über Abfall erzählen, und fragt nach dem Wissen der Gegenwartsliteratur über Abfälle. Mit Blick zum Beispiel auf Adalbert Stifters Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters (1841/1842; 1847) wird der literarische Verwerfungsdiskurs bereits im 19. Jahrhundert deutlich: „Stifter sah sich, vor allem in seiner langjährigen Residenz, der Stadt Wien, mit Entwicklungen konfrontiert, die ihren Ursprung in der Kommerzialisierung vieler Bereiche hatten. Entwicklungen, die auch einen Übergang von der Bewahrungs- zur Entsorgungsgesellschaft darstellten.“ Der kursorische Umriss von Stifters historischem Hintergrund veranschaulicht auch aus literatursoziologischer Sicht, dass das „19. Jahrhundert […] der Beginn dessen [war], was wir heute als Konsumgesellschaft kennen.“

Hervorzuheben ist, dass das Textkorpus der Studie sehr heterogen angelegt ist. Gleiches gilt für das im Rahmen der Monographie abgesteckte Verständnis des vielschichtigen Abfallbegriffs. Gehrlein geht von einem weit gefassten Abfallverständnis nach der Brockhaus-Enzyklopädie aus, die eine subjektive Bedeutungskomponente impliziert: „Falls sich beispielsweise jemand entscheidet, viele gültige Papiergeldscheine zu verwerfen, als Abfall zu betrachten und etwa zu verbrennen, wird die Transformation von Wert in Abfälle im Akt der Entsorgung tatsächlich wirksam.“ Vor diesem umfassenden Abfallbegriff, der Verwerfungen sowie Verworfenes berücksichtigt, fokussiert Gehrlein u.a. neben Nicht-Orten wie der Mülldeponie auch komplexe Prozesse des Zirkulierens, Sammelns, Entsorgens und Recycelns, des Mensch-Ding-Verhältnisses, das anhand eines reichhaltigen Textkorpus eingehend untersucht wird. Bereits die Strukturierung der Studie in drei Teile bringt die Komplexität des facettenreichen Abfallbegriffs und die mannigfaltigen Erzählmöglichkeiten über Abfall zum Ausdruck.

Auf einem überzeugenden theoretischen Fundament baut Gehrlein ihre Analysen auf. Die Autorin zieht verschiedene Ansätze der kultursoziologischen und -wissenschaftlichen Abfallforschung, wie zum Beispiel der Discard Studies oder Garbology, heran, woraus sie ertragreiche Impulse gewinnt. Nach einleitenden Überlegungen und der theoretischen Verortung der Studie fokussiert Gehrlein im ersten Teil „Bewahrendes, aufschiebendes, integrierendes Erzählen“ literarische Texte, u.a. Heinrich Bölls Satire Der Wegwerfer (1957), Michael Endes Roman Momo (1973) und vor allem Wilhelm Genazinos Abschaffel-Trilogie (1977, 1978, 1979), der angemessen viel Platz eingeräumt wird. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen der gleichnamige Protagonist und dessen Beziehung zum Abfall. In Abschaffel setzt Gehrlein zufolge das aufschiebende Erzählen, „das Zaudern als abfallverneinende Haltung“, ein. Aber auch eine Ambivalenz gegenüber Konsumgütern wird diagnostiziert: „Die verrottenden Dinge ziehen Abschaffel zugleich an und stoßen ihn ab.“

Im zweiten Teil, „Erkundendes, ruinöses, resignierendes Erzählen“, schlägt Gehrlein den Bogen zur Stadt und zur Umwelt der Figuren, die sich im Fall von Rolf Dieter Brinkmanns Materialband Rom, Blicke (1979) als Abfalllandschaften erweisen. So wird verdeutlicht, dass nicht primär die Figuren, sondern das Stadtleben ambivalent ist: „Einerseits bietet die Stadt mit ihren Warenangeboten Gelegenheit zu Erlebnissen und Zerstreuungen, andererseits werden gerade durch die Ausrichtung der städtischen Infrastruktur auf Konsum die Möglichkeiten eines solchen Erlebens minimiert.“ Hier führt Gehrlein den Neologismus „Abfallergänge“ ein: Zum einen meint der Begriff, aktiv nach Abfällen zu suchen, „zum anderen aber auch, die Stadt durch und mit Abfälle(n) zu denken, Stadt durch Bewegung zu konstituieren.“ Anhand des Protagonisten Alfred Irgang in Evelyn Grills Roman Der Sammler (2006) wird dies sehr eingängig verdeutlicht: „Sein Blick ist gerichtet auf die Dinge, die weggeworfen, verworfen wurden. Dies bestimmt seine Interaktion mit dem Stadtraum.“

Mit dem Verweis auf Susanne Hausers Habilitationsschrift Metamorphosen des Abfalls (2001) führt Gehrlein in den dritten und letzten Teil ihrer Arbeit ein. In „Utopisches, synthetisierendes, kontaminiertes Erzählen“ steht nach der Stadt ein anderes Setting im Zentrum der Analyse: Die Abfallinsel in Annette Pehnts Roman Insel 34 (2003), auf der Müll deponiert wird. Problematisiert werden darin auch die Gefahr kontaminierten Sondermülls und das Schiff als Giftmülltransporter, welches wiederum „selbst zum Sondermüll, zum Problemabfall“ wird. Daran setzen weitere literatur- und kulturwissenschaftliche Überlegungen und Impulse aus Andrea Westermanns Kunststoff-Studien gegenwärtiger Abfallprobleme an, wie etwa die Zunahme und Deponierung des Plastikmülls, der Gehrlein zufolge wie auch andere Abfallarten in literarischen Texten keinesfalls rein zufällig platziert werde: „Was bei Genazino in Bezug auf die Plastikstühle Empörung auslöst, wird bei Brinkmann zu Hass, zu Verachtung und Wut.“

Während literarische Texte die Abfallrealität abbilden (so eine abschließende These Gehrleins), widmet sich die Autorin im Kapitel „Strahlendes Ende: Radioaktive Abfälle erzählen“ Arno Schmidts Schwarze Spiegel (1951) und Andreas Maiers Kirilow (2005). Auch wenn die Autorin einräumt, dass das Erzählen über radioaktive Abfälle nicht besonders spektakulär sei, so ergänzt das vergleichsweise kurze Kapitel die Abfallproblematik in all ihren Facetten, obgleich die Schlussfolgerung erwartungsgemäß ernüchtert ausfällt: „Gerade weil literarische Texte keine endgültigen Lösungen hinsichtlich der Entsorgungsfrage anbieten können, stehen sie in diesem Punkt dem Hauptproblem radioaktiver Abfälle besonders nahe.“ Möglicherweise wäre der ein oder andere ergänzende Verweis in die Kinder- und Jugendliteratur, etwa die schonungslose Schilderung der Folgen radioaktiver Strahlung in Gudrun Pausewangs Romanen, sinnvoll gewesen. Immerhin nimmt Gehrlein bereits im ersten Teil vorweg, dass „die großen Fragen, die dieser Text stellt – etwa nach dem Umgang mit radioaktiven Abfällen – immer noch nicht beantwortet [sind].“

Gehrleins Abfallverbindungen ist eine ausgesprochen wertvolle Studie, da sie den kulturwissenschaftlichen Diskurs im Allgemeinen und den literaturwissenschaftlichen Forschungsstand im Besonderen bereichert. Auch wenn primär nicht beabsichtigt, lässt sich die Monographie als kleine, wenn auch nicht vollständige Literaturgeschichte des Abfalls lesen. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christina Gehrlein: Abfallverbindungen. Verworfenes und Verwerfungen in Erzähltexten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Transcript Verlag, Bielefeld 2020.
472 Seiten , 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783837654073

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