Oberhalb der Baumgrenze

Kathrin Geist nimmt in „Berg-Sehn-Sucht“ eine Vermessung des literarisierten Alpenraums vor

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Alpen prägen die Landschaft Europas, sie bestimmen zudem die Kulturlandschaft dieses Kontinents. Inwieweit der Alpenraum die Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur seit dem 18. Jahrhundert beeinflusst hat, erkundet Kathrin Geist in ihrer Studie mit dem originellen Titel Berg-Sehen-Sucht in mehreren Routenverläufen.

Der Anstieg auf den Gipfel gewährt am Ende, soviel soll verraten sein, innovative und stellenweise atemberaubende Ausblicke. Es lohnt sich also, das Buch vom Anfang bis zum Schluss zu lesen und alle Etappen dieses Höhenwanderweges abzuschreiten. Nach der Einleitung, in der dem Leser ein methodischer Werkzeugkasten in die Hand gegeben wird, können die Routenverläufe frei gewählt werden. Es gibt allerdings auch etwas kühne Gratwanderungen, holprige Textstellen und kleine Einwände. In der alpinistischen Metaphorik wären dies vermeidbare Fehler oder unschlüssige Analysen. So ist fortwährend vom „Subjet-Modell“ Juri Lotmans die Rede. Ein Augenzwinkern kostet jedem literarisch versierten Leser die Fußnote zu „Robert Müsli, Schüler von Ernst Mach“ [sic!]. Textfehler und philologische Unschärfen dieser Art sollten sich in einer Studie nicht finden. Nicht immer sind die Analysen stringent nachvollziehbar beispielsweise wenn konstatiert wird, dass im Gedicht Die Alpen, mit dem Albrecht von Haller 1729 einen wichtigen Markstein in der Wahrnehmung der Alpinlandschaft setzte, die „verwendeten Verben“ eine „statische Beständigkeit deutlich zeigen“ und es sich dabei ferner um „keine Bewegungs-, sondern Zustandsverben“ handle, so fügt sich das zwar in den willkommenen Interpretationsgang, doch der strenge Blick auf den Textbefund deutet in eine andere Richtung. Denn was evozieren die im Gedicht von Haller verwendeten Verben wie „schließen“, „brechen“, „widerhallen“, „wallen“, „öffnen“ oder „schmälern“ anderes als Bewegung?

Wie bei jeder Bergtour, die zudem mit Berg-Sehn-Sucht tituliert und als solche konzipiert ist, kann die vorgegebene Route hinterfragt werden. Das Konzept vom harten zum weichen Raum, vom Geotext zum literarisch imaginierten Raum, das über das Textkorpus von Albrecht von Hallers Die Alpen (1729) bis zu Peter Stamms Weit über das Land (2016) gelegt wird, wirkt spätestens bei der elften Textanalyse etwas mäandrierend. An dieser Stelle ließe sich fragen, ob nicht ein anderer, einfacherer Routenvorschlag ergiebiger gewesen wäre. Würde man die Strecke zwischen topologisch abstrakter Beschreibung und lokalisierendem Ansatz ausmessen, dann ließen sich nicht nur die sich ausbildenden kulturellen Bedeutungssysteme erkunden, sondern auf einer dritten Achse auch jene Dynamisierungen darstellen, die sich zwischen topologischer und topographischer Achse aufspannen. Wie das Rüstzeug ließe sich der Parcours hinterfragen, denn auf alpinem Gelände hätten ohne Weiteres Thomas Bernhards Frost oder Thomas Manns Der Zauberberg mit den geographisch fixierten Georäumen Weng und Davos für eine abwechslungsreiche Etappenwahl gesorgt.

Mit dieser kleinen Nörgelei an der Routenauswahl und den unbeachteten Zustiegen soll es aber hier getan sein, denn sie verblasst angesichts der vielen guten Beobachtungen. Selbstredend weiß jeder Bergsteiger um die Tatsache, dass ein und derselbe Berg durchaus verschieden sein kann. Auf den Eiger führt ein Normalweg, einige ganz wenige wählen den Zustieg über die Nordwand. Es obliegt dem durch den Textraum wandernden Leser selbst, in welche Hütten er einkehrt und in welche Texte er sich vertieft. Darin liegt die Berechtigung dieses chronologisch angelegten Zustiegs vom harten zum weichen Raum. Und darin liegt auch die Stärke des eng gewählten methodischen Zugriffs, denn am Ende steht der Leser auf einem Gipfel mit einem weiten Panoramablick, der ihm eine Vielfalt literarischer Bezugnahmen auf den Alpenraum zeigt. Dem Rezipienten offenbart die Semantisierung der Landschaft unterschiedliches: Sie erscheint als Heterotopos zur dekadenten Urbanität, avanciert zum Zeugnis ganzheitlicher Naturwahrnehmung, wird zu einem Ort der Vivisektion oder zum Erprobungsraum der Einsamkeit. An den Alpen kann sich der Blick ins Berginnere richten, an ihnen können sogar bipolare Raumkonzepte erforscht werden. Der interessante Nebeneffekt der Untersuchung liegt sicherlich darin, dem derzeit alpinen Massentourismus eine textuell interessante Routenauswahl durch die deutschsprachige Literatur vom 18. bis ins 21. Jahrhundert zu bieten. Nach der Lektüre ist jedenfalls viel zu überblicken.

Titelbild

Kathrin Geist: Berg-Sehn-Sucht. Der Alpenraum in der deutschsprachigen Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2018.
323 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783770563586

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