Von kleinen Kraftbatterien und wuchernden Klebearbeiten

Über zwei posthum erschienene Gespräche mit Wilhelm Genazino

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Autoren und ihre Eltern, das ist oft eine Beziehung voll lebenslanger Traumata. Als Franz Kafka seinem Vater stolz eine Ausgabe seiner Erzählung Ein Landarzt überreichte, sagte der nur achtlos: „Leg es auf den Nachttisch“. Vielleicht noch verletzender reagierten die Eltern von Wilhelm Genazino nach Erscheinen seines ersten Romans. Sie sagten nämlich gar nichts. 

Sein Vater habe nur schnell weggesehen, erinnerte der Schriftsteller die Szene später. Das wenig gebildete Kleinbürger-Paar sei einfach überfordert gewesen; gelesen hätten sie das Buch nie. Genazino-Lesern drängt sich aber noch eine Erklärung auf. Vielleicht haben die Eltern ja geahnt, dass der Roman ihres Sohnes nur von ihnen handeln konnte. Und dass die Lektüre mit vielen unschönen Wahrheiten verbunden gewesen wäre. 

Knapp zwei Jahre ist es her, dass der Frankfurter Autor im Alter von 75 Jahren gestorben ist. In über zwanzig Romanen erzählte Wilhelm Genazino von den Zumutungen des modernen Lebens, mit Helden, die durch gesichtslose Großstädte taumeln, bis ihre gesteigerte Wahrnehmung die Welt zumindest momentweise zum Leuchten bringt. Der für diesen Autor typische lakonisch-melancholische Sound ließ dabei Schweres federleicht erscheinen und ein wachsendes Publikum süchtig nach seinen Büchern werden. 

Nun bringen gleich zwei Publikationen mit Gesprächen den Büchner-Preisträger wieder in Erinnerung. Beide zeigen, wie nachhaltig Genazino als Mensch und Autor von seiner Herkunft aus einer klaustrophobischen Kleinfamilie des Mannheims der 50er Jahre geprägt war. Für die aus Schweigen und Scham gemischte Atmosphäre sorgte ein Vater, der sich vor seiner Erfolglosigkeit ins „blaue“ Fernsehzimmer flüchtete, und eine innerlich abwesende, depressive Mutter. Groß sei daher schon für den Heranwachsenden der „biografische Druck“ zum Schreiben gewesen, so Genazino. Denn der „Sehnsuchtsberuf“ Schriftsteller habe ihm das Versprechen geboten, „über das Leben eine gewisse Souveränität zu bekommen durch den Ausdruck desselben.“

Die Gespräche mit dem Literaturkritiker Ulrich Rüdenauer, über 15 Jahre hinweg entstanden, folgen dem üblichen Frage-Antwort-Schema. Jene mit der Journalistin Anja Hirsch hingegen wirken in ihrer bearbeiteten Form wie Bausteine zu einer Genazino-Biografie. Auffällig ist, dass in beiden Fällen die Gespräche nach der Jahrtausendwende begonnen wurden. Damals stand Genazino auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Nach seiner Zeit bei der legendären Satirezeitschrift „Pardon“ und dem frühen Erfolg seiner Abschaffel-Trilogie in den Siebzigern kam er lange Jahre über den Status eines Geheimtipps nicht hinaus. Bis im Jahr 2001 Marcel Reich-Ranicki Genazinos Roman Ein Regenschirm für diesen Tag im Literarischen Quartett empfahl und damit in die Bestsellerlisten katapultierte. 

Die Gespräche zeigen, wie sehr der Autor selbst seinem plötzlichen Erfolg misstraute und ihn eher als eine Kapriole des Zeitgeistes deutete. Zumal gerade das Scheitern auf ihn zeitlebens einen besonderen Reiz ausübte, als Ausdruck größtmöglicher Authentizität eines Menschen. Ebenso aufschlussreich sind seine werkbezogenen Reflexionen, etwa über die Rolle, die Alltagsdingen in seinen Texten zukommt. Als „kleine Kraftbatterien“ ermöglichten sie es seinen Figuren, Erinnerungen freizusetzen. Der Technik gegenüber fremdelte Genazino übrigens ebenso wie seine Helden. Seine Texte entstanden bis zuletzt an der Schreibmaschine, bei der Überarbeitung mit Schere und Uhu verwandelten sie sich dann in wuchernde „Klebearbeiten“. In deren „pappigen Charakter“ konnte sich Genazino regelmäßig verlieben, wie er verriet. 

Die Lektüre dieser posthum veröffentlichten Gespräche lohnt sich auch über den engeren Kreis der Genazino-Liebhaber hinaus. Denn in ihnen offenbart sich besonders deutlich, wie fein gesponnen die Fäden zwischen Leben und Werk oft sind. Und wer hätte gedacht, dass sich dieser Autor einst seine ersten Brötchen als Kaufhaus-Model verdiente? Weniger überraschend ist hingegen sein Bekenntnis, dass er statt Romanautor viel lieber Zirkusclown geworden wäre. Denn an tragikomischen Momenten mangelt es Genazinos Romanen gewiss nicht. 

Titelbild

Wilhelm Genazino: Der Weg ins Offene. Wie ich Schriftsteller wurde.
Aufgezeichnet von Anja Hirsch. Schreibheft. Zeitschrift für Literatur Nr. 95.
Rigodon Verlag, Essen 2020.
15,00 EUR.
ISBN-13: 9783924071523

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Titelbild

Ulrich Rüdenauer: Fast eine Komödie. Gespräche mit Wilhelm Genazino.
Verlag Ulrich Keicher, Leonberg 2020.
40 Seiten, 12,00 EUR.

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