Genette in Deutschland
Auch ein Nachruf
Von Michael Niehaus
Am 11. Mai 2018 ist Gérard Genette im Alter von 87 Jahren gestorben. Das hat auch in Deutschland eine Reihe von Nachrufen zur Folge gehabt, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Neuen Zürcher Zeitung, in der Süddeutschen Zeitung. In fast all diesen Nachrufen wurde auch der Name Roland Barthes ins Spiel gebracht: Wie Barthes war Genette ein homme de lettres mit strukturalistischen Wurzeln, der Poetik und Kritik der Literatur (und anderes mehr) jenseits der orthodoxen Literaturkritik betrieb. Andererseits war Genette aber auch verschiedenen Zeitungen keinen Nachruf wert – vor allem den Wochenzeitungen Die Zeit und Der Spiegel (von Focus ganz zu schweigen). Das wäre bei Roland Barthes natürlich undenkbar gewesen. Insofern ist es – zumal in Deutschland – offenbar trügerisch, Gérard Genette mit Roland Barthes zu vergleichen. Ihr Bekanntheitsgrad ist sehr verschieden. So liegen die Texte von Roland Barthes nahezu vollständig auch auf Deutsch vor, das meiste ist – auch fast vierzig Jahre nach seinem Tod – als Taschenbuch erhältlich; Genettes Werk hingegen wurde bislang zum großen Teil nicht übersetzt, und die übersetzten Bücher sind teilweise in kleinen Verlagen und niedrigen Auflagen erschienen (zu Beginn dieses Jahres noch das wunderbare Büchlein Metalepse von 2004 im Wehrhahn-Verlag).
Es wurde verschiedentlich bemerkt, dass die Rezeption Genettes in Deutschland überhaupt mit Verzögerung erfolgte. Die erste Buchveröffentlichung war Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, erschienen 1989 im Campus-Verlag (im Original hieß dieses Buch von 1987 einfach Seuils, also „Schwellen“). Es folgten die in Frankreich zum Teil schon früher publizierten Bücher Einführung in den Architext (1990), Fiktion und Diktion (1992), Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (1993), Die Erzählung (1994) und Mimologiken (1996). Danach stagnierten die Übersetzungsaktivitäten. Was Genette nach 1990 geschrieben hat – und das ist eine Menge – wurde (bis auf das besagte Metalepse) in Deutschland kaum mehr zur Kenntnis genommen. Hinzu kommt, dass nur wenige dieser Bücher zweite Auflagen erlebten. So sind die Paratexte in der Suhrkamp-Ausgabe von 2001 noch erhältlich, die Palimpseste – ebenfalls bei Suhrkamp – noch immer in der deutschen Erstausgabe. Genette ist nie ein Autor für ein größeres Publikum gewesen. Mehr noch: Er ist, wie man sagen könnte, in Deutschland gar nicht als ein Autor wahrgenommen worden. Seine Wirkungsgeschichte ist anderer Art. An sie soll im Folgenden kurz erinnert werden.
Das einzige Buch von Genette, das in neuerer Zeit neu aufgelegt wurde, ist Die Erzählung, das im Fink-Verlag in der 3. Auflage (‚durchgesehen und korrigiert‘, da die beiden vorangegangenen Auflagen sehr schlampig ediert waren) 2010 erschien. Bekanntlich gibt es kein französisches Buch dieses Titels von Genette, denn es handelt sich im Hauptteil um eine unselbständige Veröffentlichung in den Figures III aus dem Jahre 1972 mit dem Titel Discours du récit. In seinem Nachwort zur deutschen Erstausgabe 1994 glaubt sich Jochen Vogt noch rechtfertigen zu müssen, dass dieser Text – Diskurs der Erzählung – „ziemlich genau ein Vierteljahrhundert nach seiner Abfassung“ überhaupt noch übersetzt wird. Im selben Buch hinzugefügt wurde der Neue Diskurs der Erzählung, in dem Genette 1983 ausführlich auf seine – englischsprachigen und französischen – Kritiker antwortet und einiges näher ausführt bzw. präzisiert. Mit dem Discours du récit hat Genette die moderne Narratologie begründet, die man häufig auch Discours-Narratologie nennt, weil es ihr um den narrativen Modus geht und nicht um den Inhalt des Erzählten. Sowohl hierzulande wie international kommt niemand an dieser Grundlegung vorbei. Wenn man auf diesem Felde arbeitet, muss man sich entweder auf sie beziehen oder man muss begründen, weshalb man sich nicht auf sie bezieht.
Aber worin besteht diese Bezugnahme genau? Die Antwort darauf ist einfach: in der Verwendung von Begriffen, Einteilungen, Kategorien. Der Begriff der Diegese, der Fokalisierung, der Analepse und Prolepse, die Unterscheidung von Zeit, Modus und Stimme als den grundlegenden Kategorien der Analyse – all das wurde (auch wenn die Worte nicht neu waren) als narratologische Begrifflichkeit von Genette in die Welt gesetzt. Auch die derzeit so beliebte Metalepse hat er in die Narratologie importiert. Diese ganzen terminologischen Festlegungen haben sich als Beschreibungsinstrumentarium schlicht und ergreifend durchgesetzt. Dies gilt jedenfalls für den universitären Bereich, und zumal in Deutschland. Alle Studierenden der Literaturwissenschaft bzw. des Faches Deutsch sollen Erzähltexte mit diesem Instrumentarium bearbeiten lernen. Die Erzähltextanalyse ‚nach Genette‘ ist insofern eine Art ‚Kulturtechnik‘ geworden. Ähnlich verhält es sich übrigens mit den Begriffen, die Genette in Paratexte eingeführt hat; sie hatten es sogar noch leichter, literatur- und filmwissenschaftliches Allgemeingut zu werden, weil es auf diesem Felde – das Genette überhaupt erst als solches definiert hat – keine Konkurrenz gab (etwas weniger Erfolg war Genettes terminologischen Festlegungen zur Intertextualität in Palimpseste beschieden, weil sich dort bereits andere Wortgebräuche eingeschliffen hatten).
Man wüsste nicht, wo ein Vertreter einer Teildisziplin (der Kultur- oder Geisteswissenschaften, versteht sich) es sonst noch geschafft hat, der ihr korrespondierenden Praxis in dem Maße seinen Stempel aufzudrücken, wie es Genette mit dem Discours du récit in Bezug auf die Erzähltextanalyse gelungen ist. Insofern reicht Genettes Einfluss in Deutschland viel weiter als die Nachwirkung etwa eines Roland Barthes. Nur ist dieser Einfluss indirekt. So weit wir seine Begriffe werkzeughaft zur Analyse von Texten verwenden, geht es nicht um Anschauungsweisen, Erkenntnisse oder Thesen, die wir von Genette übernehmen könnten oder auch nicht. Daher ist der Schöpfer hinter diesen Begriffen gewissermaßen unsichtbar geworden (außer freilich für Narratologinnen und Narratologen). Weder bewundern wir den Schöpfer als Autor noch lesen wir seine Werke mit Ehrfurcht (und auch die Narratologinnen und die Narratologen legen nicht seine Texte aus, sondern diskutieren seine Begriffe und Einteilungen). Der beste Beleg dafür ist der große Erfolg der Einführung in die Erzähltheorie von Matías Martínez und Michael Scheffel. Dieses Lehrbuch – erstmals 1999 erschienen, 2016 in der 10. Auflage – verschreibt sich in seinem Hauptteil ganz und gar der im Discours du récit entwickelten Terminologie. Zu deren Vorherrschaft hat es ganz erheblich beigetragen, aber es hat die unmittelbare Beschäftigung mit dem Referenztext auch weitgehend ersetzt. ‚Genette in Deutschland‘ bedeutet vor allem die Verwandlung problemhaltiger Begriffe in ein beruhigendes Handwerkszeug, mit dem man doch jeder Erzählung beikommen könnten sollte.
Wenn man sich auf den Diskurs der Erzählung und den Neuen Diskurs der Erzählung lesend einlässt, bemerkt man schnell, dass die Dinge etwas anders liegen. Den meisten von denen, die Erzähltextanalyse ‚nach Genette‘ betreiben, ist noch nicht einmal klar, dass ihr Referenztext eigentlich eine Proust-Lektüre ist. Genette entwickelt sein Instrumentarium also in der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, der anspruchsvoller nicht sein könnte. Und deshalb eignet seinen Ausführungen etwas, was der schulmäßigen Rezeption in Deutschland weitgehend abgeht. Die Einführung eines neuen Terminus technicus, ob aus der Rhetorik (als deren legitimer Erbe Genette zu gelten hat) übernommen oder als Neologismus aus dem Ärmel geschüttelt, wird von Genette als Geste sowohl ausgestellt als auch ironisiert. Und dasselbe gilt für seine schönen Tabellen mit ihren verschiedenen Systemstellen. Es gibt nicht nur die Lust am Text, sondern auch die Lust an der Benennung und Einteilung, die Lust an der Unterscheidung von Fällen. All diese Operationen sollen natürlich dazu dienen, Ordnung zu schaffen. Aber sie zielen in erster Linie auf die Möglichkeit eines geordneten Sprechens über die Phänomene, nicht auf eine Ordnung der Phänomene selbst. Dass man immer Fälle finden kann, die sich als sperrig erweisen, macht für Genette gerade den Reiz der uferlosen Unternehmung aus. Der höchste Genuss besteht für den wahren homme de lettres – den „Reisenden auf dem Ozean der Texte“, wie Milo Rau in seinem Nachruf titelt – eher darin, etwas zu finden, was in keine Einteilung passt und noch nicht so ganz begriffen ist (und Lust auf neue Unterscheidungen macht). Denn nur so lernen wir etwas über die Phänomene (die Texte) und unser Instrumentarium zu ihrer Beschreibung.
Das macht die Lektüre von Genettes Texten zu einem intellektuellen Vergnügen, von dem sich diejenigen, die ihre Textanalysen ‚nach Genette‘ anfertigen, keinen rechten Begriff machen. Deswegen könnten sie auch nicht viel mit dem die Texte Genettes zunehmend durchziehenden Humor anfangen, obwohl er sie sehr viel angeht. Die Ironie ist ja Selbstironie. Wer die Bemühungen um Systematisierung humorlos – also systematisch – auffasst, macht sich leicht zum Gespött. Gleich auf der ersten Seite der Palimpseste schreibt Genette in einer Fußnote: „Es ist höchste Zeit, daß uns ein Kommissar der Gelehrtenrepublik eine kohärente Terminologie vorschreibt.“ Es gibt in der Tat wohl viele, die sich einen solchen Kommissar ernsthaft wünschen. Ihnen könnte man – wenn sie übersetzt wären – die Lektüre von Genettes letzten Büchern zur Pflicht machen, der sogenannten Suite Bardadrac (ab 2006). Nach Maßgabe dieser von einer Freundin übernommenen Wortschöpfung – um den heterogenen Inhalt ihrer Handtasche zu bezeichnen – porträtiert sich Genette hier halbautobiographisch als ein Liebhaber von Ordnung und Unordnung gleichermaßen. Gerade weil der Autor Gérard Genette in seinen Texten zunehmend präsent ist, brauchen wir seine Bücher nicht als Werke aufzufassen, sondern dürfen sie genießen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen