Das Unerwartete dominiert

Hans Gerhards „Mehr Zuhause als ich“ versammelt Szenen, die durch ihre Spiegelungen bestechen

Von Renate SchauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Schauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans Gerhards 14 Kurzgeschichten Mehr zu Hause als ich werden dem Titel des Bändchens gerecht. Der Autor verdichtet Szenen, die jenseits gängiger Erwartungen spielen. Sich darin zu Hause zu fühlen ist schwer, denn auch die ProtagonistInnen kennzeichnet meist eine Distanz zu dem, was sie durchleben, die manchmal sogar an ungläubiges Staunen grenzt. Dieser Kniff ermöglicht eine frappierende Genauigkeit, mit der Sekundenbruchteile, Nichtgesagtes sowie kleinste Details und Regungen zu fesseln vermögen.

Es stimmt – jemand anderes ist immer „mehr zu Hause als ich“. Wer das ist, bleibt offen. Wir sind es nicht, und der Autor scheint es offenbar auch nicht zu sein. Er ist uns also nicht überlegen. Auch dann nicht, wenn er uns als Ich-Erzähler an die Hand nimmt und trotzdem nicht vollständig in das Geschehen eintaucht, obwohl er ihm auf den Grund zu gehen versucht.

Ein Geschehen freilich, dem nichts Sensationelles, aber Ungewöhnliches anhaftet. Wer kommt schon auf die Idee, zu schildern, wie der Ex-Freund bei seiner Verflossenen sein Aquarium abholt, aus dem noch das Wasser abgelassen werden muss. Grotesk wird die Szene dadurch, dass der aktuelle Lover sich bei dem Vorgang in Betrachtungen über den weltweiten Verbrauch von Klopapier verliert. Es ist nicht die einzige Kurzgeschichte, in der es um Zahlenspiele geht. Unter anderem begleiten wir Jens, der in Mathematik promoviert und auf einer Wanderung mit einem Arzt ins Gespräch kommt, dabei aber mehr über die „Erfindung des Abakus“ nachdenkt, als die aufkeimende Beziehung zur Kenntnis zu nehmen. Oder es wird nach den angeblich Schuldigen gesucht, die zu dicke Fliesen verbauten, was dazu führt, dass ein Schwimmbecken sieben Zentimeter zu kurz ist, um als „olympia-tauglich“ bestehen zu können.

Auf der einen Seite Unerwartbares und Distanz – auf der anderen Seite entsteht aber für den Leser eine sehr präzise Augenblicksnähe zu dem Geschehen. Ist der Augenblick vorbei, können die Details getrost vergessen werden. Wichtiger sind die Schwingungen, die sich vermittelt haben. Die stecken oft in Nebensächlichkeiten. Das kleine Stolpern oder Stocken sagt zum Teil mehr als das tatsächlich Gesagte. Auf diese Weise sind auch die Beziehungen dargestellt. Da ist zum Beispiel der Mann mit dem Tourette-Syndrom, der gerade erfahren hat, dass sein Vater gestorben ist. Er sucht sich Beistand, weil er in Stress-Situationen laut schreit und zur Beruhigung auf den See hinaus will, wo Windstille Stagnation erzwingt – inmitten von anderen Booten, deren Eigner die Schreie nicht einordnen können. Oder es wird banale Hilflosigkeit offenbar, als in „Der General ist nicht zu Hause“ ein junger Mann die Ex-Freundin seines Bruders und die beiden sich eigentlich nichts zu sagen haben.

Stark ist die Suche nach einem neuen Zuhause in Rumänien – Anastasias Haus. Hier wird aber leider ohne typografischen Fingerzeig mehrfach die Perspektive gewechselt, weshalb die Orientierung nicht leicht fällt. Diese Marotte – Zeiten- und Perspektivwechsel ohne besondere Kennzeichnung – ist auch anderen Geschichten eigen. Dank der strengen Konzentration aufs Wesentliche ist das aber meist nicht besonders störend.

Obwohl nicht regelrecht ein Stimmungsbild gezeichnet wird, verdichtet sich doch ein Grundgefühl, das sich auch an Kleinstem festmachen kann: Das Verlangen nach Verlässlichkeit trifft auf unkalkulierbare Realität. Der Gegenpol zu Raffinesse und Doppeldeutigkeit ist das genaue Hinschauen. Oft müssen ProtagonistInnen sowie LeserInnen schwer Verdauliches oder Abstruses zur Kenntnis nehmen, doch gleichzeitig wird offenbar, dass man angesichts unzähliger Varianten von Spielarten nichts dramatisieren muss. Es gehört immer mehr zum Alltag, als die Oberfläche preisgibt. Und wie im richtigen Leben ist nie abschätzbar, wie ein Schicksal weitergeht, nachdem das Kapitel im Buch zu Ende ist. Der Schlitz im Zeitvorhang muss uns genügen. Er ist hier längstens über 22 Seiten geöffnet. Bewertungen bleiben außen vor.

Hans Gerhard zeigt uns, wie sich Verlorenheit spiegeln lässt, ohne dass jemand aus dem Alltag herausfällt, vielleicht nur ein wenig danebensteht. Es ist sein dritter Band mit Erzählungen. Für Flachs und Lärchen wurde er 2010 mit dem Hans-Bernhard-Schiff-Literaturpreis ausgezeichnet. 24 Kurzgeschichten lieferte er als Stadtteilautor über das Nauwieser Viertel. Seit 2013 ist der Rechtsanwalt und ehemalige Poetry-Slammer Vorsitzender des Saarländischen Künstlerhauses. Mit Mehr zu Hause als ich fächert er thematisch ein breites Spektrum auf.

Titelbild

Hans Gerhard: Mehr Zuhause als ich. Kurzgeschichten.
Conte-Verlag, St. Ingbert 2017.
202 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783956021206

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