Literarische Topographie der Szene
Vanessa Geuen untersucht „Kneipen, Bars und Clubs“
Von Markus Steinmayr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn seinem Bildungsroman von Weltrang, Lehrjahre des Gefühls, schreibt Flaubert über seinen Helden Fréderic Moreau, der nach seinem gescheiterten Versuch, das Juraexamen zu bestehen, vom Trübsinn beherrscht und vom Müßiggang verführt, die Flucht aus dem Elend seines Ichs antritt: „Schließlich, um von sich selber loszukommen, ging er aus.“
Jeder kennt dieses Gefühl, jeder war vielleicht deswegen schon einmal da: Kneipen, Bars und Clubs sind Orte der Selbstfindung, des Netzwerkaufbaus, der Selbstpoetik im Medium der Szene. Was wäre die sogenannte Hamburger Schule ohne den Pudelclub, was die Berliner Szene der elektronischen Musik ohne das Berghain, was der Existenzialismus ohne das Café de Flore? Orte dieser Art ermöglichen die Lesbarkeit dieser Bewegungen und Strömungen, ja, von Zeitgeschichte und Zeitgenossenschaft.
Natürlich sind diese Orte auch der Gegenstand von literarischen Beobachtungen. Rocko Schamoni hat dem Pudelclub eindringliche Schilderungen gewidmet, das Berghain kommt in fast jedem Roman vor, der in und um Berlin spielt (außer bei Judith Hermann), das Café de Flore hat sogar einen Sachbuchtitel inspiriert: Das Café der Existenzialisten von Sarah Blackwell.
Vanessa Geuen wählt in ihrem Buch eine andere Perspektive. Ihr geht es weniger um eine Soziologie der Kneipe in der Literatur, sondern um die literarischen „Heimaträume“. „Heimat“ und „Raum“ sind von verschiedenen Wissenschaften bereits gut vorbereitete Konzepte, mit denen Geuen ihre Lektüren steuert. Auf eine interessante und innovative Art und Weise kombiniert sie postkoloniale Raumtheorie (third space) mit klassischer Diskursanalyse (Heterotopie) und Raumsoziologie (Löw). Damit werden die beiden zentralen Begriffe „Raum“ und „Heimat“ zu hybriden Konstruktionen, die aber in der Lage sind, Funktion, Sinn und Zweck der Topographie der Kneipe zu erläutern.
An den, wohlgemerkt nicht-kanonischen Romanen von J.R. Moehringer, Jérôme Ferrari, Tom Liehr, Katinka Buddenkotte, Ju Innerhofer und Daniel Jahr entwickelt sie ihre These, dass Aufenthalt in Kneipen, Clubs und Bars für die Figuren der Texte die Funktion hat, gleichsam das Versprechen, was Heimat sein kann, zu simulieren: In der Kneipe findet man das, was man verlassen musste oder verloren hat: Anbindung, Einbindung in soziale Zusammenhänge, Vertrautheit und Geborgenheit; mithin also das, was die von Geuen analysierte „Postmoderne“ den Subjekten verweigert: Das Irgendwo-Ankommen, das Gefühl, dazuzugehören und damit Teil einer stabilen (und nicht volatilen) Gruppe zu sein, also mithin genau das, was man alltagssprachlich unter „Heimat“ versteht. In der Literatur ist die Kneipe, die Bar und der Club als eine U-topie im Wortsinne: Ein Noch-nicht-Ort, der sich aber, und das ist entscheidend, wieder auflöst. Heimat, um Walter Benjamins berühmte Definition von „Aura“ zu variieren, wird in der Kneipe zu einmaligen Erscheinung einer Nähe, so fern diese auch sein mag.
Interessant ist aber, und das ist die eigentliche Pointe in Geuens Analysen, dass dieses Versprechen auf Heimat in den Texten zwar temporär erfüllt wird, ihre Figuren jedoch das Verbindende, das Vertraute der Kneipe verlassen oder verlassen müssen: Drogen- und Alkoholmissbrauch mit all den persönlichkeitsverändernden Konsequenzen, Eifersucht und Misstrauen, Aggressivität und Depressionen katapultieren die Figuren aus den temporären Heimaten hinaus in die ‚Normalität‘ postmoderner Existenz. Das ‚Heimatgefühl‘ wird bei Geuen so zu einer Art Hoffnung, die aber im Vergangenen liegt. In vielen Texten, die Geuen analysiert, wird diese ‚Hoffnung im Vergangenen‘ zum Aufbruch in die ‚Normalität‘ des Neuen, Unbekannten, Anderen.
Aus der Arbeit ergeben sich für eine kulturwissenschaftlich angereicherte Literaturwissenschaft, die sich immer noch als Wissenschaft des Textes begreift, weitreichende Perspektiven: So hat beispielsweise Christoph Ribbat in seinem ebenfalls 2016 erschienenen Werk Im Restaurant – Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne Ähnliches für den Aufenthalt im Restaurant festgestellt: Im Restaurant wird nicht nur gegessen, sondern es werden Selbstentwürfe verhandelt und inszeniert. Die weitere Literaturgeschichte von repräsentativen Räumen/Räumlichkeit, Orten und Örtlichkeiten bleibt zu schreiben.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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