Plädoyer für eine postkoloniale und postmigrantische Gesellschaft

Der von Ömer Alkin und Lena Geuer herausgegebene Sammelband geht den vielfältigen Beziehungen zwischen Postkolonialismus und Postmigration nach

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine postmigrantische Perspektive hat vor allem in der deutschsprachigen interdisziplinären Migrationsforschung, aber auch in einem europäischen Kontext in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Ästhetisch umgesetzt wurde die Idee des Postmigrantischen in der Berliner Theaterszene: Das Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg und seine Gründungsintendantin Shermin Langhoff haben sich seit seiner Eröffnung im Jahr 2008 wesentlich für ein postmigrantisches Theater eingesetzt, das die Wahrnehmung von Migration kritisch hinterfragt und zu einer neuen Rezeption von Migrationsgeschichten einlädt. Denn die konventionelle Migrationsforschung hat wesentlich zur wissenschaftlichen Legitimation und Reproduktion einer Trennung zwischen Migration und Sesshaftigkeit, also zwischen Migranten und Nicht-Migranten, beigetragen.

In einem deutschsprachigen wissenschaftlichen Kontext wurde Postmigration vor allem von Sozialwissenschaftler*innen wie Naika Foroutan (Postmigrantische Perspektiven 2018; Die postmigrantische Gesellschaft 2019) sowie Erol Yıldız und Marc Hill (Nach der Migration: Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft 2014; Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen 2018) fruchtbar gemacht. Moritz Schramm hat diese Ideen für literatur- und kulturwissenschaftliche und ästhetische Fragestellungen aufgegriffen (Reframing Migration, Diversity and the Arts: The Postmigrant Condition 2019; Postmigration: Art, Culture, and Politics in Contemporary Europe 2021). 

Eine postmigrantische Perspektive bezeichnet eine kritische Reflexion über den restriktiven Umgang mit Migration und eine Haltung des Widerstands gegen hegemoniale gesellschaftliche Verhältnisse (Hill; Yıldız 2018). Die postmigrantische Analyse knüpft somit, ebenso wie der Postkolonialismus – und diesem Zusammenhang zwischen Postkolonialismus und Postmigration geht der vorliegende Sammelband nach – an Kontinuitäten der Ungleichheit an und verlangt, mit etablierten rassistischen Zuweisungen zu brechen. Es geht darum, das Denken von Dualismen zu befreien, eine „Auflösung der binären Trennungen zwischen ‚uns‘ und ‚den Anderen‘“ vorzunehmen (Yıldız 2019, 43). Zugehörigkeit wird aus einer postmigrantischen Perspektive als nicht ethnisch-essentialistisch reserviert angenommen. Die Idee der Postmigration weist Analogien zum postkolonialen Diskurs auf, dessen Grundidee ist, die Geschichtsschreibung des Kolonialismus von der westlichen Hegemonie zu befreien. In beiden Fällen bezeichnet das Präfix „post“ nicht nur den Zustand danach, sondern es stehen vielmehr neue Erzählungen und Neuinterpretation im Mittelpunkt, die marginalisierte Sichtweisen berücksichtigen und diese von der Peripherie ins Zentrum rücken. 

Auf diesen Zusammenhang zwischen Postmigration und Postkolonialismus wurde in der Postmigrations-Forschung bereits hingewiesen. Nun ist ein Sammelband erschienen, der den vielfältigen Beziehungen zwischen Postkolonialismus und Postmigration interdisziplinär nachgeht. Postkolonialismus und Postmigration wurde von Ömer Alkin, Professor für Angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaften, und der Kunstwissenschaftlerin Lena Geuer herausgegeben und versammelt sowohl theoretische Beiträge wie zum Beispiel von der Postkolonialismus-Forscherin Leela Gandhi oder Erol Yıldız als auch Fallstudien zu Postmigration und Literatur, Theater oder Kunst. 

Im Vorwort gehen Alkin und Geuer davon aus, dass Kolonialismus und Migration zwei Phänomene seien, die sich seit der europäischen Eroberung der ehemaligen Kolonialländer nicht voneinander getrennt betrachten und beschreiben lassen. Postkolonialismus und Postmigration bezeichneten nicht nur die Zeit nach der Kolonialisierung oder nach der Migration, vielmehr werde eine zutiefst kritische Perspektive hinsichtlich der (Selbst-)Wahrnehmung und der Reflexion postkolonialer und postmigrantischer Realitäten eingenommen. Diese Schnittstelle zwischen den Ansätzen möchte der Sammelband herausarbeiten, wobei die Herausgeber*innen auf eine Diskrepanz aufmerksam machen:

Einerseits berufen sich aktuelle Konzepte zum Postmigrantischen auf die postkoloniale Theorie, wenn es darum geht, Methoden und theoretische Ansätze zu entwickeln. Andererseits weisen die Überlegungen zur Postmigration teilweise eine eigenartige Distanz zu den grundsätzlich dekonstruktiven Gesten der postkolonialen Theorie auf. Deutlich macht sich dies beispielsweise in der euphorischen Segnung migrationsgesellschaftlicher Zustände sowie einer scheinbar alternativlosen Sympathie für transkulturelle Konzepte; die sich auch in der postkolonialen Theorie zeigen, wie z.B. im Konzept der ‚Kreolisierung‘ von Édouard Glissant. Daher geht es auch um die Frage, wo beide Konzepte an ihre jeweiligen Grenzen gelangen, wo sie kontraproduktiv für ihre eigenen theoretischen Milieus werden, in denen die Konzepte angewendet werden. (14–15)

Ob die Postmigration ins Feld des Postkolonialismus rückspielbar sein wird bzw. in bestimmte Bereiche auch bereits zurückspielt, bleibt als Forschungsdesiderat für weitere Überlegungen offen. Abschließend formulieren die Herausgeber*innen die politische Forderung nach einer postkolonialen und postmigrantischen Gesellschaft, die sich als solche begreift und handelt. (24)

Der Band beginnt mit einer Übersetzung von Leela Gandhis Epilog If This Were a Manifesto for Postcolonial Thinking, den sie der 2019 erschienen Neuauflage ihres Einführungsbuch Postcolonial Theory beigefügt hat. Gandhis Epilog ist ein Versuch, postkoloniales Denken zu charakterisieren und mit aktuellen Fragen in Verbindung zu bringen. Mit Schlagwörtern wie Assemblage (und innerhalb dieses Kontexts die Kategorien westliche Selbstkritik, antikoloniale Befreiung und Planetarität), Verletzung, Exit (Ausgang), Ontologie, Verzicht, Ethik und „Ratschläge für Könige“, die sie um thesenartige Vorschläge erweitert, möchte sie postkoloniale Theorie weiterdenken. Unter „Assemblage“ fasst Gandhi beispielsweise „Beziehungen zwischen symmetrischen Figuren in einem Raum der Aushandlung.“ (28) Sie verwendet dafür auch das Hindi-Wort jugaad, „das sich auf ein behelfsmäßiges Vehikel oder eine Art von sparsamer Technik beziehen kann, die alle zur Verfügung stehenden, begrenzten Ressourcen nutzt.“ (28) Postkoloniales Denken betrachtet Gandhi als eine „Assemblage oder jugaad, die intersektionale Beschreibungen von Imperialismus und Anti-Imperialismus erfordert.“ (36) Darüber hinaus definiert sie postkoloniales Denken als „Abrechnung mit verletztem Leben“ und als „Vorlage für Gewaltlosigkeit“ (39), als „Ethik des Aufbruchs“ (42), eine Art Instanz, „die aus der Vertreibung ein Mittel [mache], um nicht-generische Verbindungen mit der Welt zu entwerfen“ (48), als Konsequenz „Zuflucht zu erhalten und zu gewähren“ und als Möglichkeit für „Anarchismus“ (53). Postkoloniales Denken funktioniere dann am besten, „wenn es als eine unperfekte Anschauung begriffen wird, die unbestimmt, unfertig und rastlos bleibt.“ (55) Zwar wird postkoloniales Denken in diesem Epilog nicht unmittelbar mit (Post)Migration in Verbindung gesetzt, doch lassen sich diese Überlegungen im Sinne einer postmigrantischen Perspektive auf aktuelle gesellschaftspolitische Fragen übertragen. Aufgrund teilweise komplexer Begriffskonstruktionen wäre ein Abdruck des Originals gewinnbringender gewesen als die deutsche Übersetzung.

Erol Yıldız stellt in seinem Beitrag zunächst fest, dass das Postmigrantische kein neues Paradigma sei, sondern vielmehr eine offene Denkweise, die Neuinterpretationen ermögliche. Die postmigrantische Denkhaltung zeige Analogien zum postkolonialen Diskurs auf, dessen Ideen für die Migrationsgesellschaft fruchtbar gemacht werden können. Das Postkoloniale gehe über den Moment der Unabhängigkeit hinaus und richte den Blick auf das Nachwirken kolonialer Herrschaft. Ähnlich wie das „post“ in Postkolonialismus verweist das Präfix in Postmigration nicht nur auf ein Danach, „vielmehr geht es darum, eine andere Genealogie der Migration zu skizzieren und den Gesamtzusammenhang, in den der Migrationsdiskurs mündet, radikal zu überdenken.“ (81) Der postmigrantische Diskurs steht im Gegensatz zu nationalen Narrativen und konzentriert sich nicht auf Integration, sondern vielmehr auf Entortung und Neuverortung. Es gehe um eine widerständige und gegenhegemoniale Praxis, um eine kontrapunktische Lesart im Sinne Saids: 

Gegenlesen bedeutet in diesem Zusammenhang, den Blick auf die Ausgeschlossenen, die Unterdrückten und die Marginalisierten zu richten. Aus dieser Perspektive wird Migration neu gedacht und als eine gesellschaftsbewegende und gesellschaftsgestaltende Kraft verstanden. (82)

Damit lassen sich postmigrantische Praktiken als subversive Akte verstehen, die sich gegen hegemoniale Verhältnisse richten und dominante Ordnungen in Frage stellen. Schließlich bezeichnet Yıldız Postmigration als eine utopische Denkfigur, der es um Veränderungen im etablierten Umgang mit Migration und Weltverhältnis geht.

Vittoria Borsò widmet sich in einem literatur- und kulturwissenschaftlichen Beitrag dem Roman des kongolesischen Autors Alain Mabanckou Black Bazar (2009), der den Alltag eines afrikanischen Migranten im Pariser Viertel Château-Rouge dokumentiert. Zunächst stellt Borsò klar, dass die in einem postmigrantischen Kontext deklarierte Normalität von Migration nicht nur auf die jüngsten Migrant*innen- und Flüchtlingsströme zurückzuführen sei. Die Genealogie moderner Staaten zeige vielmehr, dass ihre Herkunft auf Migrationsprozessen basiere. Die Verzahnung von Postkolonialismus und Postmigration zeigt sich in Black Bazar als komplexe Angelegenheit: Einerseits wird postmigrantisches Leben als Normalität dargestellt, andererseits ist der Roman durchzogen von kolonialistischem Denken und erst am Ende des Romans verliert der Protagonist seinen Status als „Kolonialsubjekt“ (103) und vielleicht auch als Migrant. Allerdings kommt es zu einer wechselseitigen Anklage, so auch zu einer„pauschale[n] Schuldzuweisung gegenüber dem Westen durch die Migrant*innen“ (104). Eine an postkolonialen Positionen angelehnte Kritik von hegemonialen Verhältnissen, die Migrant*innen und Leitkulturen voneinander trennen, wie es Hill und Yıldız formulieren, so Borsò, reiche nicht aus. Denn eine postmigrantische Gesellschaft könne nur dann resiliente Gemeinschaften bilden, wenn sie zum Raum von Ereignissen affektiver Relationalität werde und damit auch der Öffnung und Veränderung: 

Es müssen also institutionelle Bedingungen bestehen bzw. aufgebaut werden, die es erlauben, dass Migrant*innen und (!) sog. Einheimische mit den je eigenen sinnlich-materiellen, d.h aisthetischen Praktiken und einer Offenheit für affektive Bindungen an diesen Ereignissen gleichermaßen beteiligt sein können. (114)

Kritisch setzt sich Heidrun Friese aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive mit dem postmigrantischen Ansatz auseinander. Undeutlich bleibe, ob eine postmigrantische Gesellschaft eine empirisch gesät­tigte Gesellschaftsanalyse kennzeichne oder im Gegenteil, teleologisch ausgerichtet, als normative Forderung an Gesellschaft herangetragen werde – das hieße dann jedoch, dass derzeitige Gesellschaften kaum als postmig­rantisch bezeichnet werden können. (121) Friese macht klar, dass das Anliegen postmigrantischer Forschung nicht neu sei, sondern dass sich bereits Ansätze einer Demokratisierung von Geschichtsschreibung damit befassen, eine marginalisierte Perspektive in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Unter Rückgriff auf Paul Mecherils Kritik am postmigrantischen Ansatz betont sie die Gefahr der normativen Botschaft, „das Migrantische sei etwas, von dem sich abzusetzen angeraten sei.“ (Mecheril 2014:111) (125) Die Spezifizität des postmigrantischen Projekts bleibe undeutlich und zeuge von theoretischer Unterkomplexität. Es geht Friese darum, zu erkennen, wie Mobilitäten gedacht werden können, um die bisherige Migrationsforschung zu dekonstruieren. Sie widmet sich daher dem Präfix „Post“ im Kontext der Moderne und Sozial- und Kulturtheorien. In einem weiteren Schritt verbindet sie postkoloniale Perspektiven und Derridas Beschäftigung mit dem Anderen, der anderen Sprache und Gastfreundschaft. Abschließend hält Friese fest, dass 

demokratische Gesellschaften immer schon von den Spannungen nationalstaatlich verfasster Ordnungen, dem Paradox der Demokratie und den »Grenzen der Gastfreundschaft« (Friese 2014) ›betroffen‹ [seien], – allerdings in einem anderen Sinne, als postmigrantische Perspektiven dies konstatieren. (145)

Zur Erforschung von mobilen Gesellschaften fordert sie eine Akzeptanz einer Theorie der unauflöslichen Spannung und eine Dekonstruktion, die die Sprache, Identität (des autonomen Subjektes, des Staates, der Nation) unmöglich machen. 

Ömer Alkin erklärt Postmigration in seinem Beitrag als einen politisch-strategischen Begriff, der zur Beschreibung von komplexen Migrationszusammenhängen diene. Als strenges wissenschaftliches Werkzeug funktioniere er nur in unmittelbarer Verbindung zum Postkolonialismus:

Ist der Begriff ein Theoriewerkzeug kann er das nur in dem Sinne sein, wie er sich seinem Diskursumfeld verdankt, das im Postkolonialismus, oder eher in Postkolonialismen, besteht. Das ist die These. Demnach ist der Postkolonialismus eine Art ‚große Familie‘ und die Postmigration eine Art Freizügler*in, die*der sich in einem bestimmten Umfeld (zumeist deutschsprachig) auf die Reise begeben hat, in die allzu bekannten Probleme zu intervenieren. (154)

Eine postmigrantische Gesellschaft zeichne sich durch einen Modus aus, der Migration als Konstituens schon lebt. Eine Nähe der Konzepte Postkolonialismus und Postmigration sieht Alkin vor allem in den herrschaftskritischen Widerstandspraktiken: „Sie alle operieren auf der Grundlage eines Gegenbildes, das sich aneignet (Mimikry), unterläuft (Hybridität), sichtbar entgegentritt (strategischer Essentialismus) sowie invers umdeutend gelesen wird (kontrapunktische Lesarten).“ (160–161) Fraglich ist demnach laut Alkin, ob postkoloniale Theorie nicht immer schon Migrationstheorie gewesen sei. Im Unterschied zum Postkolonialismus sei Postmigration eine regionale Angelegenheit, deren Herausforderung in einer globalen Adressierung liege.

Marianne Pieper widmet sich in ihrem Beitrag Hamburg-Harburg bzw. dem Phoenix-Viertel als Ort, dessen wirtschaftliche Prosperität sowohl dem kolonialen Aufschwung als auch der Migration zu verdanken ist. Dies bleibe allerdings im Narrativ der Stadtgeschichte ausgeblendet. Anhand einer empirischen Untersuchung in Form von Gruppendiskussionen und Interviews zeichnet sich bei einer bestimmten Personengruppe die ge­neralisierende Verknüpfung eines imaginierten Einwanderungsproblems mit einer Bedrohung durch Kriminalität, Drogenkonsum und sexuali­sierte Gewalt durch jugendliche männliche Migranten ab. Dieser Perspektive wird der Widerstand von „Migrationsanderen“ gegenübergestellt, die die trans- und postnationale Vielheit als Selbstverständlichkeit im Alltag erfahren. Hier forme sich ein transformatorisches Potenzial, das im Begriff ist, das rassistische Projekt zu evakuieren, und zwar durch die alternativen Modi einer „Post-Otherness“. Damit werden Momente bezeichnet, in denen dominante Grenzziehungspraktiken und Hierarchien kurzfristig entmachtet werden. Pieper schlussfolgert, dass

das Sichtbarmachen der kolonialen Genealogien und die Anerkennung der Geschichte(n) der Migration als konstitutive Elemente postkolonialer und postmigrantischer Stadt und Gesellschaft eine heilsame Kur gegen die panischen Abwehrbewegungen und den Phantomschmerz des Hegemonie- und Superioritätsverlustes [sind.] (213) 

Dem postmigrantischen Theater widmet sich Feben Amaras Beitrag. Unter Rückgriff auf Benedict Andersons Verständnis von Nationalismen als Produkte eines großen Kultursystems betont Amara die Schwächung dieser Systeme durch Andere und Ausgeschlossene, die die vermeintlich beständige, nationale Kultur herausfordern und anfechten. Die Verknüpfung von Postkolonialismus und Postmigration zeige sich in den transkontinentalen Kontakträumen des Kolonialismus, die als Genealogien der transnationalen Migration, Fluchtbewegungen und Mobilität sowie der multinationalen Arbeitsteilung von heute betrachtet werden können. Damit werde eine Revision des Kulturbegriffs notwendig, der kontinuierliche Veränderungen von Ordnungen, Praktiken und Bedeutungen berücksichtigt. Homi Bhabha widmet sich dieser Refiguration von Kultur abseits von Nation und verknüpft bereits postkoloniales Denken mit Fragen zur Migration. Das postmigrantische Theater im Ballhaus Naunynstraße wurde zur institutionellen Antwort auf den Problem- und Defizitdiskurs „Migration“ und umfasst mehr als ein kulturpolitisches Konzept zur Diversifizierung aller Ebenen des Theaters:

Angestrebt wird demnach die Sichtbarmachung der fatalen und zerstörerischen Begegnungen mit der deutschen Leitkultur und die Darstellung transformatorischer und zukunftsweisender Geschichte(n), Identitäten und Praktiken abseits von Binaritäten oder Grenzen mit den Mitteln des Theaters. (234)

Ein Repertoirestück ist Verrücktes Blut (2011) von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, das von einer Lehrerin erzählt, die das Werk Friedrich Schillers einer von Migration geprägten Klasse näherbringen möchte. Das Stück sei eine komplexe Persiflage auf Diskussion und Integrationswillen von Muslimen. Abschließend hält Amara fest, dass die Grenzüberschreitungen des postmigrantischen Theaters dazu dienen, um neue Netzwerke, Gemeinschaften und Formen jenseits nationalkultureller Ausschlüsse zu ermöglichen. 

Mithu Sanyal nimmt die Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16 zum Ausgangspunkt für ihre Überlegungen zu öffentlicher Empathie und Empire. Anhand der „Kopftuch-Debatte“ versucht sie zu demonstrieren, wie der Westen die sexuelle Revolution rassistisch denkt und wie Rassismus institutionalisiert wird. Rassismus sei kaum individuell, bewusst und absichtlich:

Studien belegen, dass Schwarze Menschen unverhältnismäßig häufiger als aggressiv wahrgenommen werden. Dass Menschen sie schneller – und das heißt viel schneller – als gefährlich einschätzen als weiße und deshalb auch härter gegen sie vorgehen. Nicht-Weiße Menschen bekommen seltener einen Job, seltener eine Wohnung und seltener eine gute medizinische Behandlung. (292)

Sanyal plädiert schließlich für eine Institutionalisierung von anti-rassistischem Wissen sowie einer anti-rassistischen Praxis, um einen wirklichen Wandel herbeizuführen. 

Um das Wissen um Rassismus in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen geht es auch in dem Beitrag von Paul Mecheril und Veronika Kourabas. Bereits 2014 hat Paul Mecheril sich für die politische, kulturelle, epistemische Besetzung des Migrantischen bzw. des Migrationsgesellschaftlichen, nicht für seine Überwindung, ausgesprochen. Zunächst stellen Kourabas/Mecheril fest, dass die Beteuerung einer postmigrantischen Perspektive, Migration sei politisch anerkannt, einen wichtigen Punkt unterschätze: Die nationalstaatliche Ordnung verfolge, verhindere und dämonisiere schließlich Bewegungen von Menschen über Grenzen hinweg. Ein grundlegendes Problem sei, dass Migration aus der Perspektive des Nationalstaates betrachtet werde. Damit werde der Diskurs um Postmigration und die Analyseperspektive nicht nur an­schlussfähig an die nationalstaatliche Ordnung, sondern stehe in Gefahr, deren Hegemonie zu stabilisieren. (302) In diesem Zusammenhang stellen Rassekonstruktionen ein Mittel dar, um Vorstellung eines „wir“ zu bekräftigen. Eine rassismustheoretische Perspektive sei deswegen angemessener als eine postmigrantische, da die Gewaltdimension mit der Analysekategorie einer postmigrantischen Gesellschaft unterschätzt werde. Neben der Anerkennung von theoretisiertem und erfahrungsbezogen gewonnenem Wissen plädieren Kourabas/Mecheril für eine Reflexion institutioneller Zusammenhänge wie Sprech- und Handlungsweisen, die sich der Verletzbarkeit durch rassistische Praktiken bewusst seien. (312)

Das Herausarbeiten der vielfältigen Beziehungen zwischen Postkolonialismus und Postmigration in Form von theoretischen Reflexionen und Fallstudien zeigt, wie gewinnbringend und notwendig dieser Zusammenhang für die Postmigrations-Forschung ist. In einigen Beiträgen spürt man eine Art Unwohlsein bzw. Skepsis gegenüber dem noch jungen Konzept der Postmigration, vor allem scheint das Präfix „post“ immer noch für Verwirrung zu sorgen. Auch zeigt sich häufig die Tendenz zu politischen Forderungen, was natürlich dem Thema geschuldet ist, aber nicht unbedingt Aufgabe der Wissenschaft ist.     

Diese vielfältigen Beziehungen zwischen Postkolonialismus und Postmigration zu klassifizieren wäre ein nächster Schritt und ist nicht unbedingt Aufgabe der Herausgeber*innen, doch hätte man sich eine thematische Anordnung der Beiträge, eine erste Ordnung dieser Beziehungen und  einen Forschungsstand gewünscht. Bemerkenswert ist nämlich, dass der Begriff „Postmigration“ in der britischen kulturwissenschaftlichen Forschung der 1990er Jahren bereits auftauchte und zwar im Zusammenhang mit postkolonialen Verhandlungen über Ethnien und Identitäten.  

Titelbild

Ömer Alkin / Lena Geuer: Postkolonialismus und Postmigration.
Unrast Verlag, Münster 2021.
340 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783897710962

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