Text, Klang und (Typo-)Graphik

Allen Ginsbergs Klassiker „Das Geheul“ aus dem Jahr 1956 erscheint in der Typographischen Bibliothek

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„I saw the best minds of my generation destroyed by madness“ – das ist erstens der Anfang eines literarischen Klassikers des 20. Jahrhunderts; und danach kann, zweitens, eigentlich nicht mehr viel schief gehen – textlich, klanglich. Denn das wummt, wenn man es laut liest. Eine Lesung war dementsprechend die Geburtsstunde dieses nicht sehr langen Langgedichts. Im Oktober 1955 trug Allen Ginsberg, 1927 in Newark, New Jersey geboren, im Rahmen einer Mehrautorenlesung in der Six Gallery in San Francisco den ersten Teil von Howl vor, das dann, erweitert um die Teile II–IV, 1956 veröffentlicht wurde.

Konstruiert ist Howl auch in den nur als Text konzipierten Passagen mit rhetorischen Mitteln, die für den mündlichen Vortrag gut taugen. Teil I ist so aufgebaut, dass diese „best minds“, diese „angelheaded hipsters“, immer stereotyp-repetitiv mit einem Relativanschluss in ihrem Tun und Sein beschrieben werden. Beispiele: „who poverty and tatters and hollow-eyed and high sat up“, „who bared their brains […]“, „who passed through universitites […]“. Dieses parataktisch-monotone Skelett entwirft Bilder dieser hipster, die intoxikiert oder anderweitig halb verrückt (gemacht) oder einfach nur hektisch durch ihr Leben und die raue Lebenswelt der USA krabbeln: hilflos, aufgeblasen, verzweifelt, sich die Köpfe stoßend.

Kapitel II setzt aufs Stakkato, wiederum gut fürs Vortragen. Inhaltlich geht es um den „Moloch“, die große verschlingende Stadt: „What sphinx of cement and aluminium bashed open their skulls and ate up their brains and imaginations?“ Bis auf wenige Strophen am Ende dieses Teils beginnt jede Strophe mit einem Auf- oder Ab- oder Angesang des „Moloch“. Dabei wird arg mit Ausrufezeichen gearbeitet: Hammerschläge des Lauten, des Imperativischen.

Kapitel III erscheint mir noch reduzierter. Howl ist Carl Solomon (1928–1993), einem Beat-Schriftsteller, gewidmet. Ginsberg und er lernten sich im Wartezimmer des New York State Psychiatric Institute kennen. Teil III ist eine Anrufung Solomons. Es beginnt mit einer Anrede: „Carl Solomon!“ (auch hier findet also ein Ausrufezeichen seinen Platz). Dann folgt die stets wiederholte Zeile: „I am with you in Rockland“ (gemeint ist das Rockland Psychiatric Center in New York). Dann folgt eine Ortsbestimmung mit „where“. Alles also soll irgendwie in der Rockland-Psychiatrie stattgefunden haben: „where you‘re madder than I am“ oder: „where you must feel strange“.

Abgeschlossen wird Ginsbergs Gedicht mit einer Footnote to Howl. Da hämmern die Beats noch einfacher, wieder konstruiert als Ausrufezeichen-Metalhammer: „Holy! Holy!“ In dieser footnote wird aufgelistet, was alles „heilig“ ist. Zuerst ist das „the whole world“. Die aber besteht ja aus Teilen: „The soul is holy!“ oder „The nose is holy!“ oder  „The tongue and cock and hand and asshole holy”.

Das also ist die Grundstruktur von Howl. Inhaltlich geht es, vor allem im Kapitel I mit dem dauernden „who“ um eine hektische Kaskade von Orten, Taten, Wahrnehmungen: Die USA im Tun und aus dem Blickwinkel zappeliger, drogensüchtiger Burschen um die dreißig (Frauen spielen hier kaum eine ernstzunehmende Rolle).

Warum skizziere ich so proseminarhaft einige Formalia? Weil jetzt ein Buch vorliegt, das Howl in einem neuen Gewand präsentiert. Auf Deutsch erschien das Gedicht erstmalig 1959, 1979 erfolgte eine Neuübersetzung durch Carl Weisner. Diese Neuausgabe mit der Übersetzung Weisners erscheint als Band 17 der Typographischen Bibliothek (eine Reihe in Zusammenarbeit des Wallstein Verlags und der Büchergilde Gutenberg). Herausgegeben und verantwortet wird die Typographische Bibliothek von Klaus Detjen, „Buchgestalter“ und emeritierter Professor für Typographie und Gestaltung in Kiel. Detjen möchte mit der Typographischen Bibliothek „dem Medium Typographie ein neues wirkungsvolles Forum bieten“, um Leser „wieder für ungewohnte oder längst vergessene Gestaltungsformen zu interessieren“, wie Silvia Werfel 1996 in einem Aufsatz über Detjen im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel schrieb.

Howl steht also nicht für sich und nicht allein. Der Textteil, das sind etwa 30 Seiten, wird hier, so Detjen „von zwei grafisch-typographischen Suiten eingerahmt“, beide jeweils etwas weniger als 30 Seiten. Aufgebaut sind diese Grapho-Typographien als Collagen aus Wörtern in der Schrift Outlinegrotesk, mit Linierungen und dunkelblauen Flächen. Die Collagen „wollen den Verlauf des Gedichts und der Fußnote wiedergeben. Das erste Blatt“, das eine Umrisskarte der USA zeigt, soll den Leser einstimmen: „dieses Land ist das Thema, das den Dichter umtreibt; Linierungen tauchen weiterhin auf, wenn der Dichter Stadtteile, Orte oder Bundesstaaten aufruft. Fragmente und Splitter diverser Flächenstrukturen dominieren besonders den visuellen Anteil der Collagen im vorderen graphischen Teil, während im hinteren Part“ (also im zweiten Teil nach dem Text von Howl) „die Flächenstrukturen oft zu bildlich konkreten raumgreifenden Doppelseiten anwachsen“. Die Buchstaben schließlich als drittes Element der Collagen, „laufen in ihrer aleatorischen Zeilengestaltung ineinander und wollen somit dem temporeichen Skandieren des Dichters entsprechen“.

Langsam wird mir das semiotisch zu komplex. Ich fasse zusammen, um den Überblick nicht ganz zu verlieren. Zuerst gab es einen Teil eines längeren Gedichts, der psalmodierend vorgetragen wurde, selbst aber schon als Text vorlag, Ginsberg soll an Teil I mehrere Monate gearbeitet haben. Ergänzt wurde das durch Nur-Texte, die aber selbst in sich den mündlichen Vortrag trugen. Versimpelt: Text und Klang also.

Nun wird diese Doppelstruktur ergänzt durch, gerahmt von, umzingelt von, erläutert durch, kommentiert durch, verbunden mit Graphik und Typographik. Was wäre die richtige Beschreibung? Das weiß ich nicht, ich kann nur Bezüge herstellen unter Einbeziehung von Detjens Absichten. Er will ja (1) eine bestimmte Lesart des Gedichts bieten: es gehe um die USA. Ich würde eher sagen, es geht um voll- und durchgeknallte Hipster in den USA, als Ausdruck der USA, in Auseinandersetzung mit den USA (aber nur aus männlich, aus aufgeladen sexualisierter Sicht). Detjen will (2) dem Verlauf des Gedichts folgen – was er tut, aber eben auf eine eigene Art. Dabei soll die, „aleatorische Zeilengestaltung“ (dazu gleich Genaueres) das Hektische von Howl abbilden. Wie lässt sich das genauer fassen?

Die einzelnen Typographi(k)en der vorderen Abfolge von Collagen sind, wie erwähnt, meist ähnlich aufgebaut aus Linien, dunkelblauen Flächen und Wörtern in der Schrift Outlinegrotesk. Detjen entbeint die Sätze des Gedichts und lässt nur noch Knochen von Nomina übrig. Ein Beispiel: die hipsters, das waren die, „die superkommunistische Pamphlete verteilten auf dem Union/Square, sich weinend die Kleider auszogen, während die Sirenen von Los Alamos sie niederheulten und die Wall/Street entlangheulten“. Daraus wird bei Detjen: in Outlinegrotesk graphisch aufbereitet: „Union Square/Sirenen/Los Alamos/Wall Street“. Das mag tatsächlich zufällig, aleatorisch, entstanden sein, aber dennoch lässt sich fragen: warum schnappt sich Detjen aus dem Zusammenhang diese Wörter? Wird so der Textteil aus Howl kommentiert? Durch Reduktion ergänzt? Durch das Herausgreifen genau dieser Wörter in einen anderen Horizont gerückt, so dass andere Bedeutungen entstehen (könnten)?

Tauchen in Ginsbergs Gedicht Bundesstaaten auf, dann stellen die Linierungen Detjens oft, aber nicht immer, die geographischen Umrisslinien dieses Staates dar. Das gilt zum Beispiel für Idaho, für New Jersey, Oklahoma, vielleicht auf für Colorado. Das wäre eine einfache Bedeutungszuweisung, sozusagen ‚mimetisch‘. Aber so einfach ist oder bleibt es nicht.

Erstens macht Detjen das nicht immer so. Wenn in seinem Nomengeknöcher Arkansas auftaucht, dann entspricht die Umrisslinierung nicht den Staatsgrenzen Arkansas. Zweitens erfährt man das ja nur, wenn man Detjens Linierungen daraufhin googelt, ob es sich, bei Erwähnung eines Ortes/Staats bei der (zugehörigen) Linierung um das Abbild seiner Geographie handelt. Detjens Wörter/Linierungen, die auf einen Teil von Howl „hineinverweisen“, verweisen hier aus Text und Graphik heraus. Drittens ist das aber auch manchmal überdeterminiert oder uneindeutig. Zuerst las ich eine Umrisslinierung als das Bild eines Mannes mit einem weiten Umhang. Im Text der Collage wurde „Brooklyn“ genannt. Beim Googeln las ich zuerst den Umriss Brooklyns hinein, bei genauerem Hinsehen passte der Umriss besser zu den Umrissen der Bronx. Bei anderen Umrisslinierungen lassen sich weitere (mögliche) Verbindungen assoziieren oder entdecken. So fragte ich mich – bei der Erwähnung des Staatsgefängnisses Alcatraz – ob die Umrisslinierung der Doppelseite nicht einem Foto der Umrisslinie von Alcatraz von oben entsprach. Oder beim Auftauchen des Wortes „Golgatha“ könnte eine Linierung an einen Hügel, topographisch dargestellt, erinnern – Golgatha ist ja ein bis heute nicht näher identifizierter Hügel außerhalb Jerusalems (wieder gegoogelt). Dann wieder fragte ich mich, ob zum Beispiel bei der Erwähnung New Yorks, bei der zwei schräg von oben nach unten verlaufende Geraden auftauchen, das nicht einen Wolkenkratzer in Dreipunktperspektive andeuten soll.

Gehen wir weiter zu den Flächen. Sie erscheinen zumeist wie abstrakte Scherenschnitte. Aber auch hier lässt sich manches hineingucken. Zu Anfang schnappt sich Detjen „Totenschädel“ aus Ginsbergs Text. In der Collage sieht man u.a. zwei Kreise, die an die Augenhöhlen eines Schädels erinnern. Unter den beiden Kreisen liegt eine Fläche, die man als Birne ohne Stiel ansehen kann – ist das die Incisura piriformis, die birnenförmige Öffnung (so die anatomisch korrekte Benennung), die die Nasenhöhle im Schädel vertritt? Andererseits: wenn man so weit hineingelockt ist ins Hineinphantasieren von Realistischem in den Flächen, dann gibt es kein Halten mehr – wäre das manchmal nicht doch zu übertrieben mit der Übersetzbarkeit in realistische Sichtbarkeit, was ich da treibe? Kann man so sehen.

In der hinteren „Suite“ wird das Dreiermuster aus Linierung, Wörtern, Flächen etwas aufgelöst. Statt flächiger Scherenschnitte finden sich oft Strichelungen. Und wieder darf man munter hineinsehen, was da(s) sein könnte. Sehe ich da etwa auf den Seiten 68 und 69  – das zugehörige Wort könnte „Kartoffelsalat“ sein – etwa Kartoffelschnitze? Sehe ich auf den Seiten 70 und 71 – zugehöriges Wort könnte sein: „Tischtennis“ – eine Tischtennisplatte und wild umherfliegende Tischtennisbälle – oder bin ich hier zu doof realistisch oder spinne ich? Sehe ich auf den Seiten 72 und 73 etwa – mögliches zugehöriges Wort: „Papierrose“ – eine Blume? Die weiße Fläche innendrin entspräche dann der Blüte? Oder ist das nicht doch ein dickbauchig schwebendes Michelinmännchen und der Bauch ist ein weißes Loch?

Genug der Beispiele. Detjens Collagen liefern also semiotisch Text plus Fläche plus Linien – und die stehen ja als Pikto-Typogramm in sich selbst in Bedeutungsbeziehungen, die wiederum auf Ginsbergs Gedicht – Text und Klang – bezogen sind. Mithin: Text und Klang und Bild und Buchstaben.

Ist meine Lesart dieses Buches etwas zu albern oder hypertroph oder umständlich? Kann man so sehen. Hat mir das gefallen? Als Textfex hätte mir Ginsbergs Gedicht genügt. Aber sich eine Weile in die nie festgezurrten Verbindungen, das Gewebe möglicher Bedeutungen – und ich bot ja nur eine Lesart – zwischen Gedicht und Typographiken hinein zu googeln, hinein zu lesen, hinein zu gucken, hinein zu phantasieren, das gibt diesem auch äußerlich schön gestalteten Buch seinen besonderen Reiz. Ganz abgesehen davon, dass damit dieser Klassiker des 20. Jahrhunderts wieder neu erscheint.

Titelbild

Allen Ginsberg: Das Geheul. Ein Gedicht.
Aus dem Englischen von Carl Weissner.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
96 Seiten , 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835338265

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