Wer das Kämpfen will vermeiden, sollte sich dafür bereiten
Thomas Glavinic liefert eine „Gebrauchsanweisung zur Selbstverteidigung“ ohne die seichte Sachlichkeit reiner Ratgeberliteratur
Von Veit Justus Rollmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNimmt man es ganz genau, dann ist der Titel des Buches, Gebrauchsanweisung zur Selbstverteidigung, irreführend oder zumindest nicht ganz treffend. Wer sich für einen bestimmten Kampfsport oder für Techniken der Selbstverteidigung interessiert, wird möglicherweise enttäuscht sein. Erschöpfende und detaillierte historische Abrisse zu einzelnen traditionellen oder zeitgenössischen Kampfkünsten fehlen ebenso wie die Darstellung von Vereinsstrukturen, Schüler- und Meistergraden und vielen weiteren Aspekten der Beschäftigung mit Bewegungsformen, die der Abwehr von Gewaltanwendung am eigenen oder fremden Leib dienlich sind. Die Bezeichnungen der einzelnen Kapitel suggerieren dies zwar, lösen aber manche Erwartungshaltungen an ein Buch über Selbstverteidigung und Kampfsport nicht ein. Bücher, die sich als reine Ratgeberliteratur mit derlei Dingen befassen, beinhalten in der Regel eine Vielzahl von Abbildungen zu Tritten, Wurf- und Hebetechniken, Griffweisen, Bewegungsabläufen oder Grundstellungen in Kampf und Kür. Dies ist aber nicht das Telos von Glavinics Buch.
Was Thomas Glavinic mit seiner Gebrauchsanweisung zur Selbstverteidigung vielmehr anbietet, löst das titelgebende Versprechen zwar anders, aber in vielerlei Hinsicht umfassender ein, als die spezialisierten und reich bebilderten Ratgeber, von denen es sicherlich Hunderte gibt. Er sensibilisiert seine Leserinnen und Leser: für die Situationen, in denen es zu Auseinandersetzungen kommen kann, die Kenntnisse in der Selbstverteidigung erfordern, für die psychologische Disposition, die den potenziellen Täter von seinen Opfern unterscheidet, für Orte, an denen sich die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Übergriffe signifikant erhöht und – das ist das Wichtigste – für den Kern aller erfolgreichen Selbstverteidigung: die individuelle Haltung.
Jedwedes auf Selbstverteidigung oder Kamp(kunst) ausgerichtete Training vermittelt eine veränderte Sicherheit im Umgang mit dem eigenen Körper und seinen Möglichkeiten. Im geschulten Leib findet auch der Geist eine größere Ruhe und diese Ruhe und Sicherheit strahlt nach außen ab – egal, ob man zuvor eher dem Typus des Opfers zugehörig war. Der Habitus des Prügelknaben schwindet und man verschwindet gleichsam vom Radar möglicher Täter. Mit einfachen Worten: Proportional zur Verbesserung der Kenntnisse zum Schutz der Unversehrtheit von Leib und Leben sinkt die Wahrscheinlichkeit, diese Kenntnisse und Fertigkeiten jemals zur Anwendung bringen zu müssen.
Zu den vielen Kenntnissen, die man mitbringen sollte und auf die Glavinic hinweist, gehört auch ein gewisses Gespür für das jeweilige Lokal, in dem man sich bewegt (und hiermit sind wahrlich nicht nur Kneipen wie das erwähnte „Cafe Bauchstich“ gemeint). Während der heutige Mensch oft völlig unbedarft und zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Viertel erstmals besuchter Städte zu streifen geneigt ist und dabei dem Display des Smartphones gerne größere Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt, als der unmittelbaren Umgebung, machte man sich früher kundig. Man fragte und lauschte. Dass es auch in jetzigen Zeiten klug sein kann, bestimmte Orte nach Einbruch der Dunkelheit eher zu meiden oder mit gesteigerter Reaktionsbereitschaft aufzusuchen, dürfte jedem klar sein, der schon einmal nach 20 Uhr am Dortmunder Hauptbahnhof auf ein Taxi warten musste.
Bei der Schilderung von Orten und Begebenheiten ist Glavinic nicht zuerst Kampsportler mit dem Spezialgebiet des Wing Tsun Kung Fu, sondern Erzähler. Manches, was er erzählt, mag einigen Lesern überzogen erscheinen – man kann ja vielerorts die Visage poliert bekommen, aber ein nüchtern lammfrommer Biker, der besoffen nicht nur prügelt, sondern den Verdroschenen nach Erlahmen der Gegenwehr die Zähne zieht, lässt ungläubig innehalten. Dennoch: Möglich ist alles und lesenswert sind die Schilderungen in jedem Fall. Hier schreibt ein kampfsportbegeisterter Literat über Selbstverteidigung, kein Betreiber eines Dojo.
Glavinic macht klar, dass Leben immer ein Ernstfall ist. Es gibt keinen Übungsmodus wie in einem Ego-Shooter. Das macht das Leben so faszinierend, verdeutlicht aber auch, wie sinnvoll es ist, sich mit der Möglichkeit, selbiges zu schützen, auseinanderzusetzen. Jeder kann ein Opfer werden, wenn er nicht daran arbeitet, die Haltung und den Gestus des Opfers zu vermeiden.
Wenngleich immer wieder die Begriffe „Täter“ und „Opfer“ fallen, macht Glavinic deutlich, dass es, wie im Worst-Case-Kriegsfall eines globalen atomaren Desasters, streng genommen nur Opfer gibt. Der Täter, so wie Glavinic ihn treffend schildert, ist das aktive Opfer, während das Opfer durch seine bis hin zur Angstparalyse reichenden Passivität gekennzeichnet ist.
Der Autor mag manche Themenkomplexe aufgrund seiner aufs Ganze gehenden Strategie der Sensibilisierung nur streifen, seine Gebrauchsanweisung lässt jedoch kaum etwas aus. Worst-Case-Szenarien, wie der Tod des U-Bahn-Helden Dominik Brunner in München, werden ebenso einer Analyse unterzogen wie die Möglichkeit des Notwehrexzesses vor Gericht.
Wer keine Lust hat, Opfer zu sein, sollte den Einstieg mit dieser lesenswerten Schrift machen. Als nächste Orientierungsstufe wäre dann ein Probetraining fällig.
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