Schatten der Vergangenheit

Daniel Goetsch erkundet in „Fünfers Schatten“ die Möglichkeiten einer Biografie – ohne schlüssige Ergebnisse, aber durchaus anregend

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn jüngere Autoren wenig Weltbewegendes erlebt haben, was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss, dann erzählen sie oft von ihren Eltern. Das ist eine sichere Sache, denn diese Generation durchlebte noch bewegte Zeiten, die man heute allerdings oft mit einem gewissen Schaudern betrachtet. Nicht selten überkreuzen sich dann Vergangenheit und Gegenwart an einem Punkt, von dem aus sich eine Handlung entwickeln lässt.

Diesem Verfahren folgt auch der 1968 in Zürich geborene und in Berlin lebende Schriftsteller Daniel Goetsch. In eben diesen Städten verbrachte der Protagonist seines neuen Romans, Maxim Diehl, entscheidende Jahre und verfasste dort, wie sein Autor, Romane, Dramen und Hörspiele. Allerdings hat sich Diehl zur Zeit der Romanhandlung, die bereits in den 1990er Jahren spielt, auf die Mittelmeerinsel Porquerolles zurück gezogen, um seine Autobiografie zu schreiben. Die mediterrane Abgeschiedenheit soll ihm helfen, die Erinnerungen wachzurufen. Das Nachdenken über Herkunft und die eigene Biografie führt ihn immer wieder zu den Scheidewegen seines Lebens zurück, weshalb die imaginierten Szenen aus der Vergangenheit einen stark diskursiven Charakter haben, auch wenn sie eher kaleidoskopisch als chronologisch angeordnet sind. In einem dieser Minidramen diskutiert er etwa mit seinem Verleger, ob der künstlerische Aspekt oder der lebensnahe Stoff das entscheidende Momentum eines Theaterstückes sei.

Diehls Mutter immerhin hat so einiges erlebt. Als Französin ertrug sie zunächst die deutsche Besatzung, um dann nach dem Krieg, immer noch als Kind, zusammen mit den Eltern in die französisch besetzte Zone nach Deutschland überzusiedeln. Hier verliebt sie sich in einen Deutschen, der aus einer sehr den Nazis verbundenen Familie stammt, was natürlich wiederum zu zahlreichen erzählenswerten Verwicklungen führt. In ähnlich kontroverser Weise erörtert Diehl mit seiner Zimmerwirtin die Frage nach dem politischen Standpunkt eines Romanciers. „Als Romancier muss man natürlich nicht politisch sein. Man muss nur leiden und das Leiden in Worte fassen können“, meint die Kommunistin, die als Kind mit ihrem Vater aus dem faschistischen Spanien nach Frankreich geflohen ist. Diehl, der sehr viel Jüngere, hält ihr entgegen: „Selbst ein Schriftsteller leidet manchmal an ganz simplen Dingen.“ Die stellen sich auch prompt ein, als sich Diehls Ehefrau mit dem gemeinsamen Kind ankündigt. Eine unglückliche Verbindung, denn in Wahrheit liebt Diehl seine Jugendfreundin Vivien. Diese wiederum geht unter im bekannten Züricher Drogensumpf, vom hilflosen Diehl in längeren Rückblenden betrauert, die vor allem um die Interpretation eines Verses von Allen Ginsberg „I saw the best minds of my generation destroyed by madness“ kreisen. Ins eigentliche Zentrum der Handlung schiebt sich jedoch die Begegnung mit dem alternden Amerikaner Quintin, der früher einmal Fünfer hieß – daher der Titel – und der nach seiner Flucht aus Deutschland als Besatzungssoldat und Spezialist für Reeducation dahin zurückkehrt. Seine Erinnerungen daran notiert Diehl, typografisch als Schreibmaschinenschrift vom übrigen Text abgesetzt, um sie als Grundlage für einen neuen Roman zu nutzen. Im Vordergrund stehen erneut durchaus existentielle Fragen, etwa inwieweit man den Deutschen nach der Nazi-Herrschaft eine Umkehr glauben konnte.

Am Ende münden alle Handlungswege ins Offene, was den Leser doch einigermaßen irritiert (wie etwa auch in dem gerade oscarprämierten Film Three Billboards Outside Ebbing Missouri zu erleben). So verflüchtigen sich die recht nahe am jeweiligen Zeitgeist formulierten Rückblicke allesamt ins Mögliche. Haben sich die verschiedenen Lebenswege einmal irgendwo gekreuzt? Dafür liefert der Text keine direkten Hinweise. Wie verlässlich sind die Verbindungen zu realen Personen, etwa zu den „pfeifenrauchenden Großschriftstellern, die sich als Gewissen der Nation aufspielen“? An einer anderen Stelle heißt es von der Hauptperson Maxim Diehl, sie sei „viel zu früh verstorben“, eventuell bei einem Suizid. Goetsch versammelt hier also, durchaus anregend zu lesen, Bruchstücke einer Biografie, was sich erst im „Nachspiel“ als Sichtung von Nachlassfragmenten herausstellt. Er verfährt dabei so, wie es sein Protagonist einmal über eines seiner Theaterstücke formuliert: „Das Stück zeigt drei unterschiedliche Versuche, mittels Sprache Gewissheit zu erlangen. Drei Mal beginnen die Figuren von Neuem. Ich setze sie ihren Möglichkeiten aus. Das Spiel der Möglichkeiten gegen die Unausweichlichkeit des wahren Lebens.“ Durchaus ernüchternd wirkt dann das Bekenntnis: „Hätten Sie den Text gelesen, wüssten Sie, dass in meinem Stück nirgendwo Klarheit herrscht […]. Nur so viel, es gibt Menschen, die ertragen keine Mehrdeutigkeit.“ Na dann.

Titelbild

Daniel Goetsch: Fünfers Schatten. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
270 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783608980714

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch