Der „unlogische“ Mord: Der Lebensinhalt einer jungen Anarchistin

In „Germaine Berton. Die rote Jungfrau“ (1925) widmet sich Yvan Goll einem aufsehenerregenden Gerichtsprozess der Zwischenkriegszeit

Von Mario HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yvan Goll (1891–1950) gehört zur langen Reihe jener Autoren, deren Schicksal es zu sein scheint, mehr vorgestellt als besprochen zu werden. Auch der Wallstein Verlag, der nun einen lange vergriffenen Text Golls wiederveröffentlicht, stellt seine Werke als „deutsch-französische Klassiker des 20. Jahrhunderts“ vor. Dass Goll sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch veröffentlichte und dass lyrische Beiträge von ihm in Kurt Pinthusʼ Menschheitsdämmerung zu finden sind, sind die Eckpunkte seiner (literatur-)historischen Einordung, über die erst in den letzten Jahren hinausgegangen wird. Golls polyglottes Schaffen macht ihn weniger zum Klassiker, als dass es ein Alleinstellungsmerkmal darstellt – und hat auch nur bedingt mit der Qualität von Veröffentlichungen zu tun.

Mit Germaine Berton. Die rote Jungfrau erscheint Golls Beitrag zur Reihe Außenseiter der Gesellschaft. Verbrechen der Gegenwart, die von Rudolf Leonhard im Verlag Die Schmiede 1924 bis 1925 herausgegeben wurde. In diesem ambitionierten Verlagsprojekt, das sich abseits ausgetretener Pitaval-Pfade zu positionieren versuchte, veröffentlichen unter anderem Alfred Döblin, Egon Erwin Kisch, Theodor Lessing oder der heute fast vergessene Hermann Ungar Texte zu zeitgenössischen Kriminalfällen.

Im Text, der in der Neuausgabe weniger als 70 Seiten umfasst behandelt Goll einen der aufsehenerregendsten Mordfälle und -prozesse der Dritten Französischen Republik in der Zwischenkriegszeit. Die 21-jährige Anarchistin Germaine Berton ermordete im Januar 1923 Marius Plateau, den Generalsekretär der rechtsextremen Ligue d’Action Française und versuchte anschließend, sich selbst zu töten. Bei Plateau handelte es sich jedoch nur um ein Verlegenheitsopfer, denn eigentliches Ziel von Bertons Anschlag war Lèon Daudet, Schriftsteller und hauptsächlicher Agitator der Zeitung der Vereinigung. Daudet, den Berton für mitschuldig an der Ermordung des Sozialisten und Pazifisten Jean Jaurès im Jahr 1914 hielt, war zur vorgesehenen Zeit nicht in der Zeitungsredaktion anwesend, was für Plateau an seiner Stelle den Tod bedeutete. Der Prozess um „die rote Jungfrau“ entwickelte sich zu einem politischen Schlagabtausch rechter und linker Kräfte und zog auch das Interesse der sich gerade formierenden surrealistischen Bewegung auf sich. Trotz eindeutiger Beweise wurde Berton schließlich freigesprochen.

Konnten die anderen Bände der Reihe Außenseiter der Gesellschaft unterschiedliche zeitgenössische Kritiker für sich gewinnen, blieb Golls Text weitgehend unberücksichtigt. So schreibt zum Beispiel Erich Ebermayer in einer Rezension zur gesamten Reihe in der Zeitschrift „Die Literatur“:

Germaine Berton von Iwan Goll ist höchst uninteressant. Weniger der Fall, als die Art der Darstellung, die auf unglückliche Weise das an sich schon nicht sehr klare Handeln der roten Jungfrau noch künstlich umnebelt. Die Flüchtigkeit des Stils ist kaum zu überbieten, man glaubt beim Lesen in einer stoßenden, schlecht federnden Postchaise zu fahren.

Ebermayers Einschätzung ist harsch, aber nicht unbedingt falsch, vor allem, wenn man die gesamte Reihe im Blick hat.

Golls Text entstand wahrscheinlich, wie Barbara Glauert-Hesse in ihrem insgesamt sehr lesenswerten Nachwort der Neuausgabe herausstellt, über bereits vorhandene Verbindungen zum Verlag. Im Gegensatz zu den anderen Texten der Reihe geht es Goll weniger um die sachliche Rekonstruktion des Tathergangs, als um dessen poetische Ausformulierung. Goll trat ein Jahr vor der Veröffentlichung von Germaine Berton mit einem Surrealistischen Manifest an die Öffentlichkeit, das einen Surrealismus jenseits der Ausrichtung von André Breton vorstellte. Breton, der grundsätzliche Probleme der menschlichen Wahrnehmung, wie die künstlich gesetzte Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, thematisierte, versuchte eine Aufhebung der Kunst in einer „réalité supérieure“. Im Gegensatz dazu beschäftigte Goll mehr die künstlerische Praxis und die Überhöhung der Wirklichkeit durch die Kunst in einer zu entwerfenden „réalité artistique“. Diese Ideen findet man in Germaine Berton wieder, was zu einer anderen Ausrichtung auf die „Tatsachen“ des Falls führte, als man im Rahmen der Veröffentlichung hätte erwarten können. Aber selbst mit dieser theoretischen Infusion lassen sich bestimmte Schwächen des Texts nicht kaschieren.

Einerseits zeichnet Goll mit groben, karikierend zu nennenden Strichen das Porträt der Mörderin Berton. Hier finden sich Bilder und poetische Engführungen, die an andere (lyrische) Werke Golls der frühen bis mittleren 1920er-Jahre erinnern (zum Beispiel Paris brennt/Paris brûle, 1921), die zwischen expressionistischen und kubistischen Techniken pendeln. Bei der Darstellung der anarchistischen Mörderin verfehlen sie aber, ob der Textgestalt, ihre in anderem Kontext durchaus vorhandene Wirkung. Goll zeigt sich zusätzlich bei der Deutung seiner Protagonistin gegenüber populärpsychologischen Engführungen aufgeschlossen. „Weil ihr zur Dichterin die Tiefe fehlte, wurde sie zur Mörderin“, heißt es an einer Stelle. An anderer ist Berton „Heilige und Hure“ zugleich, „haßt, wie eine Frau nur hassen kann“ – also „unlogisch“, wird mit Thomas Müntzer verglichen oder Goll attestiert ihr einen „Überschwang des Lebenstempos“. Er schreibt damit implizit im Sinne eines kriminalistischen Diskurses zur Verbrecherin, der von Forschern wie Richard von Krafft-Ebing und Erich Wulffen maßgeblich geprägt wurde und der Frauen biologistisch auf das „Gefühl“ reduziert.

In einem kurzen, ebenfalls im Buch abgedruckten Text zum Prozess gegen Berton, den Goll im Januar 1924 in der Wochenschrift „Tage-Buch“ veröffentlichte, schließt er mit folgenden Worten: „In die Kniee vor dieser Schönheit des Herzens! Epopöen für diese antiken Gefühlsmächte!“ Zuvor bezeichnet er Frankreich als „Weib“ und rechtfertigt Bertons Tat, denn ihr Antrieb liege „im Trieb, im Instinkt“ und ihr Handeln sei deshalb „insofern ohne Vorbedacht, ohne ‚Schuld‘“. Die „radikale Bedeutung“, die Bertons Mord für die Politik hatte, übersah diese nicht, sie ist „politische Maria“, Mittel zum Zweck. Offen bleibt letztlich, für wen Goll hier schreibt. Ist ‚sein‘ sentimentales Frankreich als Vorbild für Deutschland zu verstehen? Später, in A bas l’Europe (1928), wird Goll dem Frankreich der 1920er-Jahre gerade diese verschwommene politische Romantik vorwerfen. Vielleicht ist es als Selbstironie zu werten, wenn er schreibt: „Das französische Volk liebt das Pathos, das Theater, die Tränen.“ Insgesamt verstellen die auch vor knapp 100 Jahren bereits abgegriffenen Bilder und voreingenommen Vergleiche an vielen Stellen den Blick auf Interessanteres.

Denn andererseits, und hier ist ein spannender Aspekt des Texts auszumachen, hat das Zusammentreffen unterschiedlichster politischer Ansichten – die sozialkritische Dimension, in Golls Bearbeitung eine hervorragend räumliche Komponente. Er unternimmt den Versuch, die politische Situation in Frankreich aus einer topografischen Perspektive heraus, die von Enge gezeichnet ist, zu erläutern. Hier scheint Golls Vorstellung einer „réalité artistique“ eher zu funktionieren, denn die vorgefundene Wirklichkeit bietet reichlich Stoff dazu. Das Haus Rue Montmartre Nummer 142 erscheint in seiner Auslegung der Hintergründe des Falls als Brennpunkt der medial gesteuerten politischen Entwicklungen. „In einem Haus […] befinden sich die Redaktionen sämtlicher Gesinnungen Frankreichs.“ Einer „klugen“ Regierung rät Goll wiederum mit einigem Pathos, im Falle eines Bürgerkrieges dieses Haus zu beseitigen, um wieder Ruhe im Land herzustellen. Denn: „Es ist die Pandorabüchse von Paris. Es ist die elektrische Zentrale, von der aus die Kräfte und die Leidenschaften in Strömen übers ganze Land ausgesandt werden.“ Damit ist Golls Beschreibung der Örtlichkeiten jedoch noch nicht zu Ende. Diesem Haus gegenüber, an der Ecke der Rue du Croissant, befindet sich jenes Café, in dem Jean Jaurès 1914 ermordet wurde. Abermals zurückkehrend in die Rue Montmartre, diesmal Nummer 123, findet sich der Treffpunkt der Anarchisten, zu dem sich Germaine Berton zählt. In dieser so skizzierten, auf einige hundert Quadratmeter beschränkten, räumlichen Überlagerung von Konspiration, Erinnerung und Agitation findet ein Mord statt, der auch im 21. Jahrhundert, so informiert das Nachwort, im politischen Bewusstsein Frankreichs nach wie vor präsent ist.

Insgesamt handelt es sich bei Germaine Berton um einen Text, der sicher nicht zu den Stärksten des Autors zählt – vor allem mit Blick auf die folgenden Prosaveröffentlichungen in den 1920er-Jahren. Auch die Neuausgabe samt Nachwort durch den Wallstein Verlag, der in den letzten Jahren bereits einige Werke von Claire und Yvan Goll neu aufgelegt sowie umfangreiche Briefwechsel rund um das Ehepaar veröffentlicht hat, lässt letztlich mehr Stirnrunzeln als Einblicke zurück.

Titelbild

Yvan Goll: Germaine Berton. Die rote Jungfrau.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Barbara Glauert-Hesse.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
96 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835319844

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