Das Mädchen von der Insel

In „Sturmvögel“ erzählt Manuela Golz die Lebensgeschichte einer unerschrockenen Frau

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende des Lebens zieht ein Mensch Bilanz, ordnet seine Hinterlassenschaften und bereitet sich gelassen auf sein Ende vor. Diese Vorstellung ist so naiv wie idealistisch. Aus Angst vor dem herannahenden Lebensende oder auch aufgrund fehlender Energie ausgelöst durch das Alter oder eine Erkrankung wehren sich viele alte Menschen dagegen, sich mit dem Tod auseinander zu setzen. Beide Optionen im Umgang mit dem nahenden Lebensende werden auch zu Beginn des Romans Sturmvögel von Manuela Golz aufgerufen. In zwei parallel verlaufenden Handlungssträngen erzählt die Autorin die Lebensgeschichte von Emmy Seidlitz, geborene Peterson.

Die Erzählgegenwart ist wenige Jahre nach dem Fall der Mauer in Berlin angesiedelt. Emmy ist zu diesem Zeitpunkt 86 Jahre alt. Ihre älteste Tochter Hilde, die sich zum Leidwesen ihrer Mutter nach dem Abitur für ein Leben als Hausfrau und Mutter entschieden hat, kümmert sich um die Mutter. Der Sohn Otto hat sich nach einem abgebrochenen Studium der Kunstgeschichte als Antiquitätenhändler selbständig gemacht und ist immer in Geldnöten. Lediglich die jüngste Tochter Tessa hat studiert und sich als Finanzbuchhalterin selbständig gemacht. Mit zum engeren Familienkreis gehören Emmys langjährige Freundin Marianne, die im Alter zu ihrem Sohn nach München gezogen ist, sowie die Mitzwanzigerin Anni. Anni kam nach einer kurzen Liebesaffäre von Tessa mit dem wesentlich älteren Tassilo, Annis Vater, in die Familie. Nachdem sich der manisch-depressive Mann das Leben nahm, sorgten Tessa und Emmy gemeinsam für das Mädchen, das ihnen ans Herz gewachsen war. Während Tessa für den Unterhalt des Mädchens aufkommt und alle Behördengänge erledigt, nimmt Emmy die Waise bei sich auf. Die tiefe Verbundenheit trotz eines Altersunterschieds von mehr als 50 Jahren wird mit ihrem Dasein als „Sturmvögel“ begründet. Darunter werden im Roman Menschen gefasst, denen es gelingt, aus den Unwettern des Lebens in einen sicheren Hafen einzulaufen. Das Bild des Sturmvogels stammt aus Emmys Heimat, einer kleinen Nordseeinsel. Dort werden als Sturmvögel die Seeleute bezeichnet, die auch bei stürmischer See wieder sicher in den heimischen Hafen einlaufen. 

Das poetische Bild wird im zweiten Handlungsstrang näher erläutert. Dieser blickt auf die Geschichte von Emmys Familie, ihre Kindheit und ihre Entwicklung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Emmys Vorfahren waren Walfänger. Der angesehene Status dieser besonderen Fischer endet allerdings in dem Moment, in dem sie aufgrund eines körperlichen Gebrechens nicht mehr zur See fahren können. Emmys Großvater mütterlicherseits brach sich bereits als junger Familienvater ein Bein, das nicht wieder richtig zusammengewachsen ist. Die Schulden, die er bis zu seinem Tod anhäufte, belasteten die Familie schwer. Lediglich mit kleineren Diebstählen gelang es Emmys Mutter, sich und die Geschwister durchzubringen. Dass Emmys Vater sich in sie verliebt und eine Heirat gegen den Willen seiner Eltern durchsetzt, bedeutet für Janne eine gesellschaftliche Rehabilitierung – allerdings zerbricht sie selbst daran, dass sie und ihr Mann nur Töchter zeugen. Auf der Insel sind diese nicht als Erben anerkannt. So fällt das Hab und Gut der Familie nach dem frühen Tod der Eltern an die Gemeinde und die vier Töchter werden in alle Winde zerstreut. Emmy muss als Älteste mit 14 Jahren in Berlin eine Stelle als Hausmädchen antreten und bereits in jungen Jahren selbst für ihren Unterhalt sorgen.

Einen besonderen Spannungsbogen erhalten die beiden Erzählstränge dadurch, dass Hilde im Keller der Mutter Ordner findet, die auf Grundbesitz der Mutter in Potsdam schließen lassen. Die Tochter kann sich noch erinnern, dass ihr Vater Hauke Seidlitz gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von einem Schloss gesprochen hat, in das die Familie nach dem Krieg einziehen wird. Allerdings stirbt der dreifache Familienvater, der als treuer Mitarbeiter eines Führungsoffiziers der Nationalsozialisten nach dem Krieg zu einer Haftstrafe von 8 Jahren verurteilt wird, noch während seiner Gefangenschaft. So geriet der Grundbesitz (scheinbar) in Vergessenheit und für den Leser bleibt es erst einmal ein Rätsel, wie eine einfache Arbeiterin ohne höhere Schulbildung einen so wertvollen Grundbesitz erlangt haben könnte, der in den Jahren nach der Wende einem Sechser im Lotto gleich kommt. Während die beiden ältesten Kinder bereits in Vorfreude auf ihr Erbe planen, was sie mit dem Geldsegen machen werden, ahnt der Leser schnell, dass Emmy nicht die naive alte Dame ist, die zumindest ihre beiden ältesten Kinder in ihr sehen.

Die Charakterisierung der alten Frau wird unter anderem durch die Schilderung eines Arztbesuchs bei einer „Koryphäe“ im Klinikum Steglitz vorgenommen. Professor Mattheis schlägt seiner alten Patientin vor, ihr aufgrund ihrer Herzrhythmusstörungen einen Herzschrittmacher einzusetzen – eine Operation, mit der die alte Dame nicht einverstanden ist:

Emmy lächelte. „Junger Mann, woran soll ich dann sterben, wenn mein Herz nicht einfach stehenbleiben darf? Ich bin fast siebenundachtzig Jahre alt und hatte ein gutes Leben. So wie alle Menschen mit Höhen und Tiefen, aber insgesamt doch ein wirklich gutes. Ich habe das Gefühl, am Ende eines langen Weges wohlbehalten angekommen zu sein. Was will ich denn noch?“ […]

Professor Mattheis unternahm einen letzten Versuch: „Frau Seidlitz, so ein Schrittmacher stört Sie nicht. Sie werden gar nicht merken, dass er da ist. Aber er sorgt dafür, dass Ihr Herz wieder ganz normal schlägt. Es wäre ein Leichtes, Sie zu retten.“ Emmy sah in fragend an. „Retten? Wovor?“

„Vor dem Tod“, sagte Mattheis. Emmy lachte erneut auf. Der Herr Professor war offensichtlich größenwahnsinnig. Ein Verrückter im Gewand eines Arztes. Er wollte sie vor dem Tod retten. Ewiges Leben, das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Die selbstbewusste alte Frau ruht in sich selbst. Sie akzeptiert nicht nur den Lauf der Dinge, sondern ist zugleich schlagfertig. Ihr loses Mundwerk und ihr Sinn für Humor haben ihr im Lauf ihres Lebens auch immer wieder geschadet, im Großen und Ganzen wird ihr aber aufgrund ihrer selbstbewussten Ausstrahlung Achtung entgegengebracht. Bereits am Ende des ersten Kapitels ahnt der Leser, dass sich diese alte Dame das Heft nicht aus der Hand nehmen lässt und ihr Erbe wie auch ihr Lebensende auf die ihr eigene selbstbewusste und überlegte Art und Weise regeln wird. Bis zur Testamentseröffnung im vorletzten Kapitel hält Manuela Golz den Spannungsbogen aufrecht. Aus den Vorausdeutungen und Anspielungen kann sich der Leser keinen rechten Reim machen. Und so wartet das Ende des Romans mit einer ganzen Reihe an Überraschungen auf, die den Leser bis zur letzten Seite in seinen Bann ziehen.

Der ebenso unterhaltsame wie nachdenkliche Familienroman führt den Leser dabei nicht nur durch die Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte, sondern erzählt zugleich das Leben einer starken Frau, die die Liebe ihrer Eltern und die von diesen vermittelte Gewissheit, geliebt zu werden, weitgehend unbeschadet durch die Unwetter des Lebens führt.

„Irgendwann geht jedes Leben zu Ende. Auch meins“, sagt Emmy zu Beginn des Romans zu ihrer schockierten Tochter Hilde, die nicht mit dem Gedanken an den Tod der Mutter konfrontiert werden möchte. Dass man das zu Ende gehende Leben gewissenhaft planen kann, zeigt der Roman. Zu den Stärken der Figur gehören ihr Pragmatismus und ihre hervorragende Menschenkenntnis. Wie ihre Familie ihrer gedenkt und vor allem, was mit ihrem wertvollen Erbe geschieht, das überlässt sie daher nicht dem Zufall.

Titelbild

Manuela Golz: Sturmvögel.
DuMont Buchverlag, Köln 2021.
336 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181376

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