Ein Meermädchen ohne Selbsthilfegruppe

Der Romanerstling „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“ von Matthias Gruber erregt Aufsehen

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist keine Überraschung, dass der 1984 in Wien geborene und in Salzburg aufgewachsene Autor Matthias Gruber für seinen Roman „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“ nun doch noch mit einem angesehenen Literaturpreis ausgezeichnet wird. Gut begründet erhält er für „die beste Prosa-Erstveröffentlichung in deutscher Sprache“ den Rauriser Literaturpreis 2024.

Was ist das für ein Roman, in dem es, wie in den meisten, um die Liebe geht, aber auch ausgelotet wird, was die zeitlose Suche nach dem Überleben des Einzelnen und der Art bedeutet.

Arielle, Erzählerin und Hauptfigur, ist etwa 14 Jahre alt, leidet an einer seltenen Krankheit, kann Hitze nicht aushalten, schneidet Lachmünder aus Modezeitschriften, um vor dem Spiegel damit „Ein Lächeln für jeden Moment“ zu probieren, hat nur einzelne Haarbüschel am Kopf. Die Ektodermale Dysplasie macht sie weniger zu einer Außenseiterin als zu einer Randfigur, die, versiert im Umgang mit Social-Media, ihre Weltsicht vermittelt. Wer nicht wie Ari in diese Welt eingebunden ist, erfährt von ihr, was alles in den Parallelwelten der Social-Media möglich ist.

Die weiteren Handlungsorte des Romans liegen auch nicht gerade im Zentrum herkömmlicher Wahrnehmung. Da ist etwa der Schrottplatz, Treffpunkt von Schwurblern und politisch aufgehetzten Figuren, bei dessen Besitzer der Vater Arielle als Kind oft zur Aufbewahrung zurückließ, weil er befürchtete, die Mutter könnte ihr etwas antun. Hier auf dem Müllplatz lebt auch der Sohn des Besitzers Aljosa, Arielles Freund, der unangepasst aus Fundstücken ein Studio als Gegenort zum Versammlungsraum der dumpfbackigen Platzbesucher auf einem der Müllberge einrichtet, und plant, eine Aufnahmeprüfung an einer Kunstschule zu machen. Was aus seinem Leben wird, erfahren wir nicht, sein Scheitern ist wahrscheinlich. Doch sei hier angemerkt: So ernst die Thematik des Buches ist, das Prekäre und die Absurdität der Verhältnisse wird von Matthias Gruber so festgehalten, dass Leserin und Leser bei der Lektüre nicht erstarren, sondern auch hin und wieder ein Lächeln aufsetzen. Diese Verbindung von Tiefgründig- und Leichtigkeit gelingt dem Autor ganz wunderbar.

Mit dem Vater besucht Ari Wohnungen, deren Bewohner gestorben sind. Der Vater entrümpelt, schleppt (zum Leidwesen seiner Wirbelsäule) und hofft, in zurückgelassenen Handys oder Festplatten auf Kryptowährung zu stoßen, die sein und das Leben seiner Familie zum Besseren wendet. Die Lade unter seiner Arbeitsplatte „quoll über vor Tabletten gegen Verspannungen und Kopfschmerzen, vor scharf duftendem Tigerbalsam, Schmerzgels mit überschrittenem Verfallsdatum und Vitaminpräparaten“, seine Hoffnung mit so geringem Fundament ist auf diese Mittel angewiesen.

Die Familie lebt in einem alten Haus, das die Mutter sauber zu halten versucht. Doch „selbst wenn es ihr einmal gelang, den Dreck so gründlich zum Verschwinden zu bringen, wie sie es sich wünschte, war er tags darauf zurück, in den alten Holzböden, in den unerklärlichen Winkeln und Bauentscheidungen der Generationen vor uns“. Es ist offensichtlich, dass Matthias Gruber in Bildern erzählt, die gedeutet werden wollen. Ganz unaufdringlich erinnert er so an Formen des Erzählens wie Legende, Märchen und Fabel, die ohne diese Deutungen nicht auskommen.

So ein bedeutungsreicher Ort ist im Roman auch das Wasser. Das Schwimmbecken im Turnunterricht, das Freibad, ein Fluss. Das Wasser in der Flasche, das die Not der unerträglichen Überhitzung eindämmt. Arielle ist ein Wasserwesen, wobei das Wasser als Sinnbild hier durchaus ambivalent zu sehen ist. Es ist das schöpferische lebensspendende Element ebenso, wie es eine bedrohliche, zerstörende Wirkung haben kann. Arielle fühlt sich im Wasser wohl wie ein Meermädchen und ist dabei zugleich eine Wassergestalt, die die Fragilität des Lebens deutlich macht. Sie ist eine „Erste ihrer Art“ und einsam, nachdem die Freundschaft mit Yasmin, der Schulfreundin, scheitert. Aber anders als etwa Dietmar Dath in „Die Abschaffung der Arten“ hält Gruber an einem „Hoffnungsvorrat“ fest, und Arielle treibt „ohne Angst durch das nachtschwarze Wasser“.

Irgendwie sind alle überfordert. Yasmin von den unerbittlichen Regeln in der Cyberwelt, der Vater von den körperlichen Anforderungen seiner Arbeit, Aljosa von der schwarzen Pädagogik seines Vaters, der Haufen auf dem Schrottplatz sowieso, die Mutter von der Krankheit der Tochter. Sie versucht ebenso den Verhältnissen zu entkommen, vertreibt über das Internet Produkte einer Kosmetikfirma. Durch einen Identitätsdiebstahl auf FireFly von Arielle erlebt sie einen kleinen Höhenflug vor dem Absturz. Das Ende der Lebensentwürfe bleibt im Ungewissen. Viel Positives ist nicht anzunehmen, allein Arielles Sprung in das Wasser, da sie nicht ganz von dieser Welt ist, scheint nicht ganz aussichtslos.

Titelbild

Matthias Gruber: Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2023.
304 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783990272800

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