Nähmaschinen Alptraum

Die kanadische Schriftstellerin Camilla Grudova entpuppt sich mit ihrem Debüt "Das Alphabet der Puppen" als neue Hoffnung der Weird Fiction

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, es ist zutiefst verstörend, was die junge kanadische Autorin in ihrem literarischen Debüt schreibt. Camilla Grudova hat in Das Alphabet der Puppen eine Welt entworfen, die wie ein verzerrtes Spiegelbild unserer eigenen wirkt. Eine Welt, bevölkert von Nähmaschinen, Puppen, Aufbewahrungsschachteln, Projektionen. Eine Welt, die von einem toxischen Geschlechterverhältnis geprägt ist, das aber zu keinem Zeitpunkt erklärt oder gar reflektiert wird. Die Menschen in Grudovas Geschichten agieren nach einem festgeschriebenen Plan, den eine stets abstrakt bleibende Regierung irgendwann festgelegt haben muss. Ist die Welt, die sie entwirft, eine Dystopie? Eine erschreckende, postapokalyptische Zukunftsvision? Oder ist es eine Parallelwelt, die gleichzeitig zu der uns vertrauten Welt existiert und wie deren Zerrbild wirkt?

Die Texte Grudovas können dem Bereich der Weird Fiction zugeordnet werden, in denen das Seltsame, Unbekannte, Unheimliche ein integraler Bestandteil der uns bekannten Realität geworden ist, gleichzeitig wie ein Fenster zu einer grausamen Wirklichkeit fungiert, die hinter der alltäglichen Fassade lauert: Das von H.P. Lovecraft geprägte und von Autoren wie Laird Barron oder Thomas Ligotti weitergedachte kosmische Grauen, das ein chaotisches, unbarmherziges Universum zeigt, in dem Menschen wie Marionetten von einer unsichtbaren Entität bespielt werden. Vor allem die Texte Ligottis haben es Grudova angetan, denn der mysteriöse Autor der amerikanischen Weird Fiction hat in Das Alphabet der Puppen eindeutig Pate gestanden.

Das Schöne an der Weird Fiction ist vor allem, dass sie viel mehr ist als nur Horror-Literatur, da sie sich schwerpunkmäßig mit der Frage um die menschliche Existenz und den Sinn des Lebens beschäftigt. Für einige Leser*innen befremdlich ist wiederum das nihilistische Weltbild, das sie vermittelt – Thomas Ligotti hat mit seiner philosophiegeschichtlichen Studie The Conspiracy Against The Human Race quasi das Manifest dieses neuen Nihilismus verfasst, das man als Hintergrund eines jeden in diesem Kontext verfassten Textes präsent haben sollte.

Grudova hat Ligottis Kurzgeschichtensammlungen offenbar sehr genau gelesen; die Welt, in der sich ihre Figuren bewegen, erinnert stark an die Orte, die dieser etwa in Teatro Grottesco zeichnet. Das Gefühl des ‚Seltsamen‘ wird evoziert durch den Mangel an Information, den die Autorin ihren Leser*innen zumutet. Man erfährt stets nur kurz von den Gegebenheiten dieser Welt und folgt den hilflosen Figuren auf ihrem Weg. Es ist dabei sicherlich kein Zufall, dass die erste, nur knapp dreiseitige Geschichte von zwei Frauen handelt, die beginnen, sich wie Puppen aufzutrennen, sie kreieren damit einen Trend, immer mehr Frauen beginnen, sich aufzutrennen und mit der Hand wieder zusammenzunähen. In einem Akt der Selbstbehauptung wird die Funktionalität der Nähmaschine zunächst negiert, dann verworfen, schließlich vergessen Menschen, dass es Nähmaschinen gab. Am Ende kehren die Nähmaschinen in Museen für vergessene Gegenstände ein. Um diese Leitmotive werden sich die folgenden Geschichten drehen: Der Mensch als Puppe oder Marionette – Ligottis Lieblingsmotiv –, die Nähmaschine als Symbol menschlicher Unterdrückung und – im Falle ihrer Zweckentfremdung –  Selbstbehauptung zugleich, das Verhältnis der Geschlechter sowie eine kafkaeske Gesellschaftsordnung, die niemand zu durchschauen vermag, am wenigsten die Erzähler*innen der Geschichten.

In Grudovas Welten, die sich ähneln, aber – wenn auch mit gemeinsamen Vorzeichen belegt – nicht identisch sind, müssen Familien ihre Kinder im Alter von drei Jahren abgeben, oder sie müssen Kinder gebären, um das Recht auf eine eigene Wohnung zu wahren. Eine Meerjungfrau-Skulptur gebiert einen Kerzenleuchter, der durch mehrere Wohnungen gereicht wird und an seiner Existenz leidet. Ein Mann wird als tot deklariert und haust fortan mit anderen „Toten“ in einer Gruft. Und zu guter Letzt, in der leider schwächsten der dreizehn Erzählungen, dann doch die Verneigung vor Kafka, als ein Mann mit acht Spinnenbeinen geboren wird und eine nach außen hin exaltierte, aber nach innen gebrochene Existenz in der Bohème führt.

Doch die meisten dieser Geschichten sind auf eine gelungene Weise verstörend, vor allem dann, wenn wie in „Wachsig“ von einer absurden Gesellschaftsform berichtet wird, in der alle Männer fortlaufend ominöse „Prüfungen“ in Philosophie ablegen müssen, während die Frauen möglichst als Näherinnen Geld verdienen und den Männern für ihre sinnfreien Prüfungen den Rücken freihalten müssen. In einer anderen Geschichte kommunizieren zwei junge Mädchen mit Schattenspiel-Figuren, die von einer mit einem Projektionsmechanismus versehenen Nähmaschine – was sonst – projiziert werden und mit ihnen zu fühlen und zu altern scheinen. 

Camilla Grudova ist ein faszinierendes Werk im Dunstkreis der New Weird Fiction gelungen, und auch ihre optische Inszenierung im Netz und bei öffentlichen Auftritten trägt zu dem Mysterium bei, das sie und ihre Texte zu umwehen scheint; auf Pressefotos jedenfalls wirkt sie nicht selten wie eine ihrer Figuren.

Titelbild

Camilla Grudova: Das Alphabet der Puppen.
Aus dem Englischen von Zoe Beck.
CulturBooks, Hamburg 2020.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783959881500

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