Grundeinkommen statt Terrorismus

In seinem letzten Werk untersucht Zygmunt Bauman die Gründe für die Sehnsucht nach dem Stammesfeuer

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das posthum herausgegebene Buch des Soziologen Zygmunt Bauman beschäftigt sich mit der in vielen westlichen Gesellschaften zu beobachtenden Sehnsucht nach der Vergangenheit, die er Retrotopie nennt. Retrotopie ist die neue Utopie. Warum sehnen sich viele Menschen nach einer vermeintlich intakten, Trost und Geborgenheit spendenden Vergangenheit, die es so vielleicht nie gab?

Bauman nennt die „erniedrigenden, furchteinflößenden und belastenden Risiken“ des deregulierten Arbeitsmarktes als wichtigste Ursache und Tribalismus, Nationalismus und den Glauben an reine, unhinterfragbare Wahrheiten als die wichtigsten Manifestationen. Mit ihnen einher gehe eine Verrohung der Sitten und eine neue Lust an der Gewalt, der ein neoliberal geschwächter Staat keinen Einhalt mehr gebieten könne. Es folgt eine Liste von Klagen über Einzelaspekte der modernen Welt – vom Waffenhandel über die sozialen Medien bis hin zur Schwächung des Kartellrechts. Baumans Fazit lautet, dass der Terrorismus für viele einen plausiblen Weg aus der Unterbeschäftigung darstellt. Schuld hat bei Bauman also nicht der Mörder, sondern das System.

Der Hebel, der für den Umschlag der Verunsicherung in die Retrotopie sorge, sei die „relative Deprivation“, die innerhalb weniger Seiten zweimal sehr unterschiedlich definiert wird, nämlich einmal als Vergleich mit den Menschen in der eigenen Umgebung, denen es tatsächlich oder vermeintlich sehr viel besser gehe, und dann mit einer „gleichsam ‚frei fließenden‘“ Vergleichsgruppe, der jede lokale Spezifik fehle. Weiter heißt es:

„Meiner Ansicht nach ist dieser neue existentielle Status der ‚relativen Deprivation‘ die Antwort oder wenigstens ein wichtiger Teil der Antwort auf die Frage, ob das rasch ansteigende Maß ‚objektiver‘ Ungleichheit, wie auch immer man es definiert, eine ‚revolutionäre Situation‘ herbeiführen wird, wie unsere Vorfahren vermutet hätten – und woran es liegt, falls es das nicht tut.“

Auch nach einem Abgleich mit dem Originaltext bleibt diese Stelle orakelhaft dunkel.

Bauman plädiert vor dem Hintergrund des von ihm entworfenen Katastrophenszenarios der modernen westlichen Gesellschaft für zweierlei: für das bedingungslose Grundeinkommen und für eine „Kultur des Dialogs“, als deren bedeutendsten Fürsprecher er Papst Franziskus identifiziert. Der Schwenk ins Katholische ist an dieser Stelle gut nachvollziehbar, kommt aber dennoch überraschend; schon der kritische Hauptteil des Buches hätte sich mit Äußerungen des gegenwärtigen Papstes, noch viel mehr aber mit solchen des emeritierten Papstes Benedikt XVI., untermauern lassen.

Baumans Kapitalismuskritik ist eigenartig hohl. Bauman wirft Unternehmen vor, durch immer wieder erweiterte Ausbeutungsstrukturen die traditionelle Familie zu untergraben, erwähnt aber nicht, dass die Kritik an traditionellen sozialen Institutionen bis vor Kurzem eine Herzensangelegenheit der Linken war. Vertreter jener Akteursgruppen, gegen die sich Baumans Zorn richtet, kommen nicht zu Wort. Eine überzeugende Ausnahme bilden die Passagen über Ratgeberliteratur im Umfeld von Ayn Rand, die als Untersuchungsgegenstand direkt in den Blick kommen. Doch weder Unternehmer noch jene kapitalistisch verseuchten Verbraucher, die sich mit Gadgets einer „illusorischen Gratifikation phantomartiger Bedürfnisse“ hingeben, haben bei Bauman eine Stimme. Dass derartig durchgehend über die Köpfe von Handelnden und Betroffenen hinweggeredet wird, lässt das Buch hinter die partizipativen Ideale zurückfallen, denen es sich verschreibt.

Schließlich bleibt die Kritik in parteipolitischen Gräben stecken, indem sie beispielsweise die Liberalisierung der Finanzmärkte ausschließlich US-Präsident Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher anlastet, ohne die in dieser Hinsicht sehr viel weitergehenden Maßnahmen ihrer sozialdemokratischen Nachfolger Bill Clinton und Tony Blair zu benennen.

Insgesamt ist dieses letzte Werk des 2017 verstorbenen, für die intellektuelle Landschaft des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts außerordentlich bedeutsamen Soziologen Zygmunt Bauman vor allem ein uneinheitlicher Text, der seinen Kernbegriff aus immer neuen Perspektiven und oft in polemischen Formulierungen anreichert, aber durch seine Distanz zu den handelnden Akteuren und ihren konkreten Praktiken ein weites Feld unbeackert lässt.

Titelbild

Zygmunt Bauman: Retrotopia.
Übersetzt aus dem Englischen von Frank Jakubzik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
220 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518073315

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