Was macht uns zu dem, was wir sind?

Dilek Güngör erzählt mit einer bewundernswerten Offenheit von Herkunft und Identität

Von Laura SperlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Sperling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund oder etwa eine Türkin, die in Deutschland lebt? In ihrem Roman Ich bin Özlem erzählt Dilek Güngör aus dem Leben der 39-jährigen Özlem, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und dort mit ihrem deutschen Mann und zwei Kindern wohnt. In ihrem Alltag wird sie überall als ‚Türkin‘ identifiziert, obwohl sie nie in der Türkei gelebt, sondern lediglich die Ferien bei den Verwandten verbracht hat. Immer wieder erfährt sie Situationen im Leben, in denen sie sich ihrer Zugehörigkeit nicht sicher ist. Auch wenn sie der türkischen Kultur nicht viel abgewinnen kann und ihr die Kirche viel vertrauter ist als die Moschee, fühlt sich Özlem angesprochen, wenn über ‚die Türken‘ im Supermarkt geschimpft wird. Lange versucht Özlem sich nichts anmerken zu lassen, doch dann mündet ein ausgelassener Wochenendtrip in einem Streit über Alltagsrassismus.

„‚Zwischen zwei Kulturen‘, wenn man mich auf die Palme bringen kann, dann mit dieser Plattitüde“. Özlem steht nicht zwischen zwei Kulturen, sondern befindet sich inmitten der deutschen und türkischen Kultur auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. Seit der Kindheit beschäftigen sie Fragen nach Herkunft, Migrationshintergrund, Zugehörigkeit und Identität, die Dilek Güngör anhand von simplen, alltäglichen Situationen plastisch und authentisch darstellt. Durch kurze episodenhafte Einblicke in den deutsch-türkischen Alltag der Protagonistin zeigt Güngör die Identitätsproblematik einer multikulturellen Herkunft auf. Angefangen beim Gebrauch vom Knoblauch in der türkischen Küche, über das klassische deutsche Abendbrot bis hin zur großzügigen Gastfreundschaft der Türken stellt Özlem ständig die Eigenschaften der beiden Kulturen dar und vergleicht diese miteinander. Dabei werden die Unterschiede zwischen deutscher und türkischer Kultur, die teilweise durch Stereotype und Klischees sehr überspitzt dargestellt werden, und das Denken in den Kategorien ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ deutlich.

In sämtlichen Alltagssituationen der erwachsenen Özlem finden Rückblenden in ihre Kindheit statt. So erinnert sich Özlem beim Fertigmachen im Bad an das damals verhasste Baderitual. Solche Situationen werden von der erzählenden Protagonistin reflektiert und bewertet. Sie erklärt sich ihr heutiges Denken und Handeln mit ihrer Erziehung. Für sie ist klar, dass ihre Großzügigkeit beim Servieren daher rührt, dass sie früher bei ihrer Tante Leyla den Teller immer wieder aufgefüllt bekommen hat, ob sie wollte oder nicht. Während die meisten Menschen positiv auf ihre Erinnerungen an die Kindheit zurückblicken und diese mit einem wohligen Gefühl verbinden, ist Özlems Erinnerung meist mit negativen Gefühlen besetzt. Ihr Migrationshintergrund evoziert Unbehagen; er bedeutet für sie, aus der Masse herauszustechen und anders zu sein.

In ihrem Roman geht Güngör auf verschiedene Themen des Integrationsdiskurses wie Migrationshintergrund, soziale Kategorisierungen, Stereotype, Prestigesprachen und Akkulturation sowie deren Einfluss auf die Identität einer Person ein. Insbesondere der Aspekt der Selbst- und Fremdzuschreibung wird im gesamten Roman immer wieder aufgegriffen. Nicht nur ihr Umfeld kategorisiert Özlem als ‚Türkin‘, wenn sich ihre Freunde erkundigen, wie man türkische Gerichte isst, oder sie als ‚Deutsche‘ bezeichnen, wenn sie davon ausgehen, dass Özlem ihre Kinder auch nicht auf eine Schule mit hohem Migrationsanteil schicken würde. Auch Özlem selbst definiert sich über ihre Herkunft, von der sie eigentlich nicht bestimmt werden möchte. Im Gegensatz zu ihrer Mutter kann sie weder dem Kochen noch dem Bewirten etwas abgewinnen und trotzdem lädt sie ihre Freunde regelmäßig zum Essen ein, um ihnen Börek mit Spinat zu servieren, weil man es von ihr erwartet. „Werde ich jemals etwas anderes sein als Türkin? Ich bin die Fragen und Vorstellungen der anderen leid, und doch bin ich selbst diejenige, die sich daran festklammert, als ginge ich sonst unter. Ich selbst mache aus mir eine Türkin“. Güngör zeigt mit ihrem Roman auf, wie die Übernahme von Mustern, die Prägung durch Stereotype und Erwartungen Einfluss auf das eigene Handeln und die Identität haben.

Neben dem Aspekt der Herkunft behandelt die Autorin in ihrem Roman eine der wohl menschlichsten Fragen nach Identität und Zugehörigkeit. Eine Thematik, die jeden Menschen gleichermaßen beschäftigt – unabhängig von einem eigenen Migrationshintergrund. „Jeder Mensch fragt sich, wer er ist. Das ist völlig normal“.  Mit der Figur Phillip als Ehemann Özlems eröffnet Güngör eine Perspektive, die dem Leser auf den ersten Blick verborgen bleibt und in vielen soziologischen Diskussionen über Migration unbeachtet bleibt: Identität hat jeder, auch wenn die vermeintliche Kategorisierung sicherlich nicht bei jedem so offensichtlich ist wie bei Özlem. Phillip ist der Ruhepol Özlems, der sie liebt – ganz unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft. Für ihn bestimmt nicht die Herkunft die Identität, sondern das, was man aus ihr macht. Güngör ist somit der Spagat zwischen ‚Migrationsliteratur‘ und einer Erzählung über Identität im Allgemeinen gelungen.

Der Roman überzeugt mit sprachlicher Simplizität, die die kleinsten Details authentisch erscheinen lässt. Die Ich-Perspektive sowie Passagen direkter Rede zwischen Özlem, ihrer Familie und ihren Freunden lassen eine realitätsnahe Geschichte entstehen. Indem sie die Gedanken der Figur Özlem offen und ehrlich präsentiert, als könnten es die eigenen Gedanken sein, zieht Güngör den Leser in ihren Bann. Mit scheinbar unbedeutenden Situationen wie dem Erkennen des Vaters am Abheben des Telefonhörers erzeugt sie große Wirkung. Sie regen den Leser zum Nachdenken über die kleinen und doch so bedeutungsvollen Dinge an.

Obwohl der Roman mit 160 Seiten übersichtlich ist, beleuchtet Güngör das Facettenreichtum der Thematik Herkunft und Identität und stellt gekonnt Zusammenhänge her. Ich bin Özlem gibt dem Leser Raum, um über die eigene Identität – ganz unabhängig von einem eigenen sogenannten Migrationshintergrund – nachzudenken. Am Ende des Romans wartet keine Lösung auf den Leser, die nach einem Kampf gegen Alltagsrassismus schreit – ganz im Gegenteil: „Wir haben es selbst in der Hand, wie wir uns sehen, wer wir sind. Wie wir uns anderen erklären“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Dilek Güngör: Ich bin Özlem.
Verbrecher Verlag, Berlin 2019.
160 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957323736

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