Gelingende Integration

Peter Härtlings „Djadi, Flüchtlingsjunge“

Von Margarete HoppRSS-Newsfeed neuer Artikel von Margarete Hopp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Härtling ist bekannt dafür, von der nicht unproblematischen Lebenswirklichkeit von Kindern zu erzählen und dabei oft auch Autobiografisches mitschwingen zu lassen. Mit Djadi, Flüchtlingsjunge greift er aus aktuellem Anlass erneut sein erklärtes Lebensthema „Flucht und Vertriebene“ auf und gibt der gegenwärtig großen Zahl der ‚UMF‘, der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, ein Gesicht. Djadi, ein anfangs etwa elfjähriger, schmächtiger und verängstigter Junge aus dem syrischen Homs, ist vor einiger Zeit übers Meer geflüchtet und hat kaum noch Erinnerungen an seine Familie, als er Jan in der Jugendhilfe begegnet. Jan, ein Sozialarbeiter, stellt ihn spontan den Mitbewohnern in seiner Frankfurter Alten-WG vor. Die drei Seniorenpaare erklären sich schnell bereit, den Jungen aufzunehmen und sich um ihn zu kümmern, was ihnen nach einigen, letztlich erfolgreichen Hindernisläufen durch Behörden und Ämter auch gestattet wird. 

Ohne zu dramatisieren und ohne verklärende Sentimentalität, vielmehr mit einem wissenden Gespür für die traumatisch belastete Seele, erzählt Peter Härtling in klarer Sprache die Geschichte einer langsam gelingenden Integration. Dass diese von allen Beteiligten gestaltet werden muss, liegt auf der Hand, gerade wenn in der Schule mit Ausrufen wie „Scheißaraber!“ Feindseligkeit laut wird. Dennoch bringt der verstörte, aber lernwillige und sprachbegabte Djadi bald die notwendige Offenheit für das Einfügen in die für ihn neue Welt mit. Die Vertrauen schaffende Achtsamkeit, mit der ihm die WG-Bewohner begegnen, tut ihr Übriges, obwohl nicht alles auf Anhieb glückt.

Als besonders wertvoll und hilfreich erweist sich dabei der Älteste der WG, der längst pensionierte Lehrer Wladi. Eben in Wladi, dessen etwas albern anmutende Aufmunterungsparole „hopse popse pipse“ er sich zu eigen macht, findet Djadi einen Seelenverwandten. Mit dieser Figur und dem sie verbindenden Flüchtlingsschicksal verweist Härtling nicht von ungefähr auf sich selbst und gibt so ein Beispiel ab, wie seiner Erfahrung nach mit der traumatisierten Verschlossenheit von Flüchtlingskindern verständnisvoll umgegangen werden kann bzw. sollte. Das mag auch der Grund für die Entscheidung gewesen sein, den Flüchtlingsjungen in einer Alten-WG statt in einer Familie mit Kindern unterzubringen. Als Identifikationsangebot kommen die Senioren für den kindlichen Leser jedoch kaum infrage. Der Königsweg literarischen Lesens, die emotionale Kontaktaufnahme mit den Figuren, ist hier kein Spaziergang, denn auch die einfühlsam angebahnten Einblicke in die verletzte Seele des Flüchtlingskindes sind eine Herausforderung für den kindlichen Leser und möglicherweise ohne Vorkenntnisse nicht so ohne Weiteres nachzuvollziehen. Positiv gewendet, liegt darin sicher die Chance, das Distanzempfinden zum Anlass für eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Wirklichkeitswahrnehmungen und -erfahrungen zu nehmen. 

Dass bei aller positiven Entwicklung nichts immer gut bleiben kann, weil das Leben ohne Verluste keines wäre, lehrt schließlich noch das Ende der Geschichte. Es zeigt aber auch, welchen Wert zwischenmenschliche Beziehungen haben und welche Kraft daraus erwachsen kann, die über schrecklichste Erlebnisse hinwegzuhelfen vermag. Härtlings Geschichte ist deshalb weniger eine unterhaltsame Freizeitlektüre für kindliche Leser als vielmehr ein Angebot für Erwachsene, die sich angesichts der Aktualität des Themas selbst und aufgrund des pädagogisch-didaktischen Potenzials (Flüchtlingsproblematik, Auseinandersetzung mit Fremdheit etc.) als Vermittler von Kinder- und Jugendliteratur davon angesprochen fühlen dürfen. Da überrascht es nicht, dass bereits eine erste Lehrerhandreichung für das Frühjahr 2017 angekündigt ist. Djadi, Flüchtlingsjunge ist ein Buch, dem viele Leser zu wünschen sind, empfohlen ab 10 Jahren und für Erwachsene, und es wird sie sicher schon allein wegen des großen Autornamens auch finden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Härtling: Djadi, Flüchtlingsjunge. Roman für Kinder und Erwachsene.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2016.
116 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783407821645

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