Von Familie, Flucht und Verlust

Anna Katharina Hahn schildert in ihrem vierten Roman „Aus und davon“ anschaulich die Schönheitsfehler einer Familienchronik

Von Nora SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Generationenroman geht sofort in medias res. Er beginnt in der Küche der alleinerziehenden Mutter, die fortgeflogen ist, auf und davon, nach Amerika. Die detailreiche Beschreibung der Szene zeigt, noch bevor die Geschichte beginnt, ein Bild der Überforderung der Zurückgebliebenen und des Chaos, das sie zurückgelassen hat: an der Decke klebende Pfannkuchen, zerkratze Holzstühle, ein zurückgebliebener Kaffeebecher, braune Spritzer auf dem Buchstabenrätsel, in dem einzig das Wort „BRAND“ eingetragen ist. Etwas störend wirkt die Erwähnung etlicher Namen direkt zu Beginn, ohne dass die Personen zuvor eingeführt wurden. Die Masse an unbekannten Personen ist erschlagend, so dass der Einstieg holprig daherkommt.

Die Autorin erzählt eine Geschichte über Makel einer kleinbürgerlichen Vorstadtfamilie aus der Sicht der Frauen des Hauses: Die Protagonistin Elisabeth, Inhaberin eines Reisebüros im Ruhestand, ist in ihrer Ehe gescheitert. Sie stört sich nach dem Schlaganfall ihres Mannes Hinz so sehr an dessen neuer Schwäche und Hilflosigkeit, bis dieser sie für eine andere Frau verlässt. Ihre Tochter Cornelia verliert ebenso ihren Mann, der sich in seine Heimat Griechenland zurücksehnt, und ist nun eine überforderte, alleinerziehende Mutter zweier Kinder: ihrem essgestörten Sohn und ihrer pubertären Tochter. Cornelia flüchtet nach Amerika und lässt ihre Kinder in der Obhut der Oma zurück. Sie will wieder frei und für sich sein, aber auch auf den Spuren ihrer Großmutter wandeln. Diese wurde zur Zeit der Inflation zu den angeblich wohlhabenden ausgewanderten Verwandten nach Amerika geschickt.

Hahn zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mit ihrem Roman Am schwarzen Berg (2012) war ihr ein Platz auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse im Jahr 2012 sicher sowie der erste Platz der SWR-Bestenliste. Auch ihr viertes Werk Aus und davon (2020) ist preisgekrönt: Für die zeitgenössische Darstellung des Familienbildes wurde es bereits im Erscheinungsjahr mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet. Der Preis prämiert deutschsprachige erzählende Prosapublikationen, die ein zeitgenössisches Bild der Familie zeichnen.

Die Protagonistin Elisabeth hat immer viel gearbeitet. Sie ist das Inbild der modernen Frau ihrer Zeit. Sie versorgt ihre zwei Töchter in der Mittagspause, setzt auf Fertigessen und bittet die Nachbarn, einige Tage in der Woche auf die Mädchen aufzupassen. In ihrer neuen Funktion als Aufpasserin für ihre Enkel ist Elisabeth überfordert. Immer wieder denkt sie sehnsüchtig an ihren Mann, mit dem alles einfacher wäre und verdrängt diese Gedanken direkt, da er sie verlassen hat. Elisabeth ist zudem traditionell und sehr religiös. Durch ihre Erziehung verfolgen sie „ihre unermüdlichen inneren Mahnerinnen“, „zwei gelbgesichtige Diakonissen“, die ihr Tun von oben herab kommentieren und ihr Handeln lenken. Sie bespricht sich mit ihnen: „Alkohol verträgt sie nicht mehr und hat wenig Verständnis für Leute, die ihm verfallen sind. Da stimmt sie ausnahmsweise mit den Fellbacherinnen überein“. Elisabeths Religiosität findet sich auch in dem ein oder anderen Sprichwort und Gebet „Mensch, bedenk die Ewigkeit und spotte nicht der Gnadenzeit, denn das Gericht ist nicht mehr weit“ oder „der Herr segne und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und gebe dir Frieden“ wieder. Ihr Pietismus schafft eine Verbindung zwischen ihr und ihrer Mutter, deren fleißiges Beten und Lesen in der Heiligen Schrift in den Erzählungen über sie wiederholt Erwähnung findet. In der nachfolgenden Generation endet die Verbindung zur Religion allerdings. Cornelia identifiziert sich eher mit dem Song Losing my religion, als dass sie Hilfe in religiösen Texten sucht.

Hahn arbeitet mit stereotypen Figuren, wie dem Bild vom kleinen dicken Jungen, der gemobbt wird, und dessen schöner pubertierenden Schwester, die ständig Angebote von Agenturen bekommt, aber nur Interesse an Jungs hat. Der überforderten alleinerziehenden Mutter, die wegläuft und im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, den USA, auf pickelige junge Typen, die im Diner Kaffee ausschenken, die Amisch und ansonsten übergewichtige Amerikaner trifft, welche ihr schlechtes Gewissen wegen ihres übergewichtigen Sohnes mildern. Sie sucht in den USA ihre Unabhängigkeit und scheitert, als sie von dem Fortgang ihres Vaters erfährt, der zum Anlass ihrer Rückkehr wird.

Die Kapitel sind nach Straßennamen oder Orten benannt, an denen die jeweiligen Szenen spielen. Dem Alosenweg und der Ostendstraße rund um Stuttgart, wo Elisabeth, Cornelia, Stella und Bruno zu Hause sind, und verschiedenen Orten in Amerika, an denen sich Cornelia aufhält. Außerdem taucht immer wieder eine Puppe namens Linsenmaier in den Kapitelnamen – Wie der Linsenmaier über den großen Teich fuhr, Wie Trudele und der Linsenmaier heimkehrten und was danach aus ihnen wurde– auf. Diese Puppe wird in der Familie seit Generationen weitergegeben. Elisabeth entdeckt den Linsenmaier bei ihrem Enkel und erzählt ihm durch dessen Augen die Geschichte ihrer Mutter Trudele. Dadurch, dass die verschiedenen Perspektiven von Kapitel zu Kapitel wechseln, welche durch ihre Titel leicht zuzuordnen sind, können die Leser*innen den Neupositionierungen gut folgen. Die Benennung der Kapitel dient der leichteren Orientierung im Geschehen. Vor allem die Beschreibung der Straßen und Vororte in Stuttgart schafft eine lokale Nähe. Dem spießbürgerlichen Vorort und der Arbeitersiedlung aus Stuttgart steht Amerika als Land der Freiheit, der Unabhängigkeit und der Möglichkeiten gegenüber. Die Kapitelüberschriften geben über den Ort hinaus vorab Auskunft, ob es nachfolgend um die Protagonistin und deren Enkel oder ihre Tochter geht, oder um die zurückliegende Historie der Familie, wenn der Linsenmaier von der Übersiedlung der Großmutter Trudele nach Amerika berichtet.

Geht es um Elisabeth und ihre Enkel oder den Linsenmaier, spricht ein personaler Erzähler über das Geschehen. Cornelia berichtet als Ich-Erzählerin über ihre Erlebnisse in Amerika. Diese Form der Darstellung führt dazu, dass eine besondere Nähe zu Cornelia geschaffen wird, indem die Leser*innen durch die Ich-Perspektive in die Geschehnisse eintauchen und sich mit ihr identifizieren.

Die Autorin setzt viel auf wörtliche Rede, um den jeweiligen Slang der Generationen, den Status der Personen oder deren Herkunft zu verraten. Dadurch wirken die Figuren und Gespräche besonders lebendig. Die Gespräche der Amerikaner auf Englisch schaffen neben der Authentizität zusätzlich eine Verbindung zwischen den Erzählungen über Urgroßmutter Trudele und Cornelia, die auf ihren Spuren wandelt. Allerdings setzt die Autorin so gewisse Englischkenntnisse voraus.

Hahns Roman überzeugt vor allem durch eine Verwebung von Gegenwart und Vergangenheit. Nicht nur durch die gewählte Erzählweise der verschiedenen Figuren in den einzelnen Kapiteln, auch innerhalb der Kapitel erfolgen Zeitsprünge, um Handlungen und Gedanken der Figuren zu erläutern. „Natürlich sah Elisabeth ein, wie anstrengend Cornelias Leben seit dem Auseinanderbrechen ihrer Ehe mit Dimi geworden war. Dimitrios Chatzis, dessen große Liebe sie gewesen war, seit die beiden sich in der hintersten Hofecke der Grundschule Rohracker gegenseitig die Haare geschnitten hatten. An Cornelias Einschulungsmorgen saß Elisabeth im Reisebüro und kannte nur Hinz‘ Erzählung“. Einige Passagen des Romans wirken metaphorisch überladen. Beispielsweise die, in der Elisabeth draußen auf ihre Enkelin wartet, weil diese nicht rechtzeitig nach Hause kommt.Dort häufen sich die Metaphern und der Lesefluss wird gestört: „[Ein] kühle[r] Zug [greift Elisabeth] unter die Bluse“, „[die] frech leuchten[den] […] blauen Haken an der WhatsApp Botschaft“ verkünden, dass diese gelesen wurde, wenngleich keine Antwort eingegangen ist. „Angst [schiebt sich] vor den Ärger“ über das Fernbleiben der Enkelin. Die Angst lauert Elisabeth auf und „Busse [zerren] an ihren Nerven“.

Die Autorin schafft eine Symbiose der Generationen, die sich auch in ihrem Schreibstil wiederfindet. Elisabeth wandelt auf dem „Trottoire“ der gutbürgerlichen Klasse anstelle des neudeutschen Bürgersteigs und gerät mit ihren Enkeln in Konflikt, die die Spaghetti als „scheißeheiß“ verfluchen, um über den Ausruf der Oma, man sei nicht bei den „Hottentotten“, von ihren Enkeln und deren Freunden in eine Rassismus-Diskussion gezogen zu werden. Ebenso spielt die Autorin auf Flüchtlings- und Migrationsprobleme an. Stella hat einen Freund, der aus Syrien geflohen ist, von einer Familie aufgenommen wurde und von Elisabeth als „Tagesschaumeldung an ihrem Tisch“ begutachtet wird.

Der Roman spricht viele Themengebiete am Rande an, beispielsweise Religion, Migration, Übergewicht und Mobbing sowie Pubertät und den Umgang mit Technik (wie Skype und WhatsApp) im Alter. Der Fokus liegt aber auf der Familie und den Generationsunterschieden, der Angst, als Elternteil oder Ehepartner*in zu versagen und dem, was passiert, wenn man gescheitert ist. Außerdem steht die Suche nach der eigenen Vergangenheit –durch die Amerikareise Cornelias, die den Spuren ihrer Urgroßmutter folgt– im Vordergrund. Dazu wählt die Autorin gekonnt einen Wechsel der Erzählperspektive um die Sicht der Urgroßmutter, der Mutter und ihrer Tochter zu beleuchten.

Wer sich an den teilweise metaphorisch überladenen Textstellen und stereotypen Figurenkonstellationen nicht stört, findet hier die Darstellung einer Familienchronik, in der sich Vergangenheit und Gegenwart zu einem schlüssigen Gesamtbild verdichten. So erklären sich die Entscheidungen und Handlungen der Figuren aus ihrer Vergangenheit heraus. Die vielen Verbindungen zwischen den Schicksalen der Frauen sind dabei beeindruckend verknüpft.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Anna Katharina Hahn: Aus und davon. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
308 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429198

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch