Der Earl und seine Wölfe

Sarah Hall schildert in ihrem Roman eine Frau an der Grenze zweier Welten

Von Anja BeisiegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Beisiegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jenseits der Wolfsgrenze liegt die Wildnis. Sarah Halls Roman Bei den Wölfen (englischer Originaltitel The Wolf Border) bewegt sich entlang dieser Grenze. Mal spielt er auf der wilden Seite der Wolfsgrenze, mal auf der zivilisierten. Oft ist die Verortung von diesseits und jenseits der Grenze schwer möglich. Rachel Caines, die Heldin des Romans, ist eine Wanderin zwischen den Welten.

Wölfe faszinieren sie. Der Wolf ist für sie der „Gott aller Hunde“, „ein Geschöpf, so großartig, dass sie es kaum fassen kann.“ Rachel arbeitet als Zoologin in einem Wiederansiedlungsprojekt für Wölfe in Nordamerika, die Welt innerhalb der Wolfsgrenze ist ihr vertraut. Die Welt draußen, ihre Heimat England, ist ihr fern und fremd, das Verhältnis zu Mutter und Bruder porös.

Als sie ein Angebot des englischen Lords Pennington erhält, Wölfe innerhalb dessen riesigen Ländereien auszuwildern, nimmt sie an und zieht weg aus der Wildnis des nordamerikanischen Indianerreservats Chief-Joseph nach Annerdale, dem Landsitz der Penningtons im Lake District. Konfrontiert wird sie dort mit den Gegebenheiten der Zivilisation, aggressiven Widerständen gegen das Wolfsprojekt. Aber sie wird – nach dem Tod ihrer Mutter – auch eingeholt von ihrer eigenen schwierigen Familiengeschichte.

Sarah Hall räumt den Schilderungen der Natur und der Wölfe großen Raum ein. Sie findet passende Bilder und formuliert anschauliche Beschreibungen – nie kitschig oder sentimental, manchmal drastisch. Der Wolf ist ein wildes Tier, wird nicht heroisiert, nicht vermenschlicht. Hall schreibt von „fürchterlichen Schreien, die dem Gerissenwerden“ der Beutetiere vorausgehen. Beschreibt, wie den Welpen erste Verknüpfungen zwischen Jagd, Beute und Fressen vermittelt werden: Der Rüde bringt seinen Welpen einen „struppigen Pelz mit Bernsteinaugen, der zwischen seinen Zähnen baumelt. Essbar: Frisch. Seitdem ist die Assoziation hergestellt.“ Die Welpen der ausgewilderten Elterntiere bleiben namenlos, es soll keine Bindung zwischen Mensch und Wolf angelegt werden.

Parallel zum Auswildern der Wölfe verläuft Rachels Geschichte: die Versöhnung mit dem Bruder, ihre Beziehung zu einem Landtierarzt, ihre Schwangerschaft und Mutterschaft. Rachel, die ein freies Leben ohne festen Partner und familiäre Einschränkungen gelebt hatte, findet zu einem fast bürgerlichen Dasein mit kleiner Patchwork-Familie. Während sie sich immer mehr auf der zivilisierten Seite der Wolfsgrenze etabliert, brechen die Wölfe aus und erschließen sich eine Wildnis außerhalb ihres Geheges in Schottland.

Hall schildert mit Rachel eine moderne Frau, die sexuell freizügig, unabhängig und klug ist. Sie tut sich schwer mit festen Mann-Frau-Beziehungen, fürchtet romantische Heiratsanträge und findet sich erst mit fortschreitender Schwangerschaft in ihre Mutterrolle. „Die Elternschaft ist intuitiv gesteuert.“ Was für die Wölfe gilt, scheint auch auf die Protagonistin zuzutreffen. Hall verfasst hier jedoch keine Zähmung einer Widerspenstigen, kein „Heile Welt“-Happy End. Ihre Heldin bleibt autark trotz Kind und Mann, wirft ihr Frauenbild nicht über den Haufen, sondern erweitert es um die eine oder andere Nuance. Manchmal klingen in Bei den Wölfen Töne an, die an heitere Frauenromane erinnern, vor allem dann, wenn Hall die stillen Freuden von Rachels Mutterschaft in pastelligen Farben beschreibt. Man verzeiht es der Autorin aufgrund ihres hohen sprachlichen Niveaus und der Brüche, die immer just dann auf den Fuß folgen, wenn es kurzzeitig süßlich wird.

Das hohe erzählerische Können Halls steht außer Frage. Ihr Stil ist anschaulich, voll von schönen Bildern. Ihre Personenbeschreibungen sind scharf und humorvoll. Lord Pennington – „nicht unattraktiv“ – attestiert sie den „kastrierenden Einfluss britischer Privatschulerziehung“, er strahlt „keine Spur von Erotik“ aus. Michael Stott, ein ungehobelter Angestellter auf Annerdale ist „soweit stubenrein“, dass er Rachel „in Gegenwart des Herrn die Hand gibt.“

Hall entwirft ein authentisches Bild der verschiedenen Welten, in denen sich Rachel bewegt. Allerdings stellt sich beim Lesen die Frage nach der Tauglichkeit des Plots: Von Anfang an ist das Buch auf Spannung angelegt, werden Fährten ausgelegt, die auf einen Wendepunkt der Geschichte hinzielen: Mischlinge „halb Wolf, halb Husky“, politische Verwerfungen, familiäre Intrigen, Drogen.

Leider werden erst nach fünf Sechsteln des Buches die unheilvollen Andeutungen eingelöst. Zu einem Zeitpunkt, an dem man sich bereits damit arrangiert hat, dass es trotz vieler Spuren doch keine Beute geben wird, kommt es zu einem Vorfall: Die Wölfe verlassen das hermetisch verriegelte Terrain der Penningtons. Leider bleiben für die Auflösung des Plots nur die wenigen – temporeichen – Seiten am Ende des Buches.

Dass Hall packend und spannend schreiben kann, beweist sie an vielen Stellen. Hinter den polierten Eichenholz-Vertäfelungen von Annerdale lässt sie von Beginn an etwas Unheimliches vermuten. Die Familie Pennington scheint ein Geheimnis zu verbergen, ein verlorener Sohn geistert durch das Off und einer der alteingesessenen Bediensteten macht aus seiner Abneigung gegen Wölfe keinen Hehl. Man ahnt früh, dass hinter Thomas Penningtons Wolfsprojekt andere Motivationen stecken könnten, als diejenigen, die er vorgibt. All diese Andeutungen sind gut gesetzt und kommen nie plump daher. Die Auflösung wird jedoch etwas zu rasch abgehaspelt; das Unerhörte des Vorfalls, die politische Dimension des Geschehens gehen im Schlussgetümmel daher fast unter: „Es endet wie bei Konflikten und Träumen üblich, im Sitzungssaal eines Regierungsausschusses.“

Titelbild

Sarah Hall: Bei den Wölfen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
Knaus Verlag, München 2016.
447 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813506792

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