Vom Schauen und Staunen

Christian Hallers „Sich lichtende Nebel“ präsentiert sich als ungewöhnliche Novelle über physikalische und andere Unschärfen

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man hat lange nichts mehr gehört von ihr, aber in den letzten Jahren hat sie sich wieder öfter zu Wort gemeldet: die Novelle. Das Metzler Lexikon Literatur definiert sie als „Prosaerzählung geschlossener Form und mittlerer Länge mit vorgeblichem Anspruch auf Faktenwahrheit bei gleichzeitiger Ästhetisierung“, die in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts zur „bestimmenden Prosaform“ geworden sei. Gotthelf, Keller, Meyer – man erinnert sich. Es könnte sein, dass ältere Menschen noch vom Deutschunterricht her das berühmte Goethe-Wort präsent haben, eine Novelle sei „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“. Das ungewisse und oft rätselhafte Verhältnis von nüchterner Wirklichkeit und poetisch überhöhter Wahrheit verleiht der Novellen-Lektüre ihren besonderen Reiz, immer schon und immer noch. Das gilt auch und gerade für das jüngste Buch des vor achtzig Jahren in Brugg geborenen und seit langer Zeit in Laufenburg im Aargau lebenden Christian Haller: Sich lichtende Nebel.

„Im Frühjahr 1925 beeilte sich Helstedt von einem Besuch bei seinem Freund Sörensen nach Hause zu kommen“, lautet der erste Satz. Wir befinden uns in Kopenhagen, im Lichtkegel einer Laterne taucht dieser Helstedt auf, verschwindet im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Das fragt sich ein Beobachter der Szene, der unschwer als der beim berühmten Physiker Niels Bohr forschende Werner Heisenberg identifiziert werden kann – der Autor weist ausdrücklich darauf hin, dass ihn Heisenbergs Arbeit Der Teil und das Ganze maßgeblich zu seiner Novelle angeregt hat. Der junge Wissenschaftler bemerkt, „dass etwas Unbestimmtes, Unscharfes sein Denken berührt hatte, das irritierte“. Letztlich wird ihn seine Beobachtung des zunächst ganz normal erscheinenden Geschehens zur Ausarbeitung einer Theorie führen, die ein neues Weltbild schafft: die Quantenmechanik. Helstedt indes, ein 69-jähriger emeritierter Geschichtsprofessor, nimmt beim Blick aus seinem Fenster zwar einmal „Glutfunken“ wahr, „bewegte Zustände von Energie, von unglaublicher, leuchtender Schönheit“, und dieses „Durchbrechen der gewohnten Wahrnehmung“ beschäftigt ihn durchaus. Aber er weiß nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat. Der ältere Herr versucht vor allem, den Tod seiner geliebten Ellie zu verarbeiten und mit seinem nun recht einsamen Leben einigermaßen klar zu kommen.

Wie konnte es sein, dass diese Frau durch ein solches Leiden gehen musste, und zur Trauer mischte sich Mitleid mit ihr, doch auch mit sich selbst. Er hatte nicht verdient, allein zurückzubleiben und ohne sie das Alter verbringen zu müssen.

Zwei Lebenslinien also, zufällig miteinander verbunden. Christian Haller erzählt sie weiter, in schneller Schnittfolge Helstedts Alltagsleben in Kopenhagen mit dem Aufenthalt des jungen Wissenschaftlers auf der Nordseeinsel Helgoland verbindend, deren Faszination er eindringlich schildert – auch der reale Werner Heisenberg hatte sie einst beschrieben.

Wie er das macht, ist allemal interessant, sogar spannend. Aber nicht ganz unkompliziert, was naturgemäß am mitunter doch reichlich abstrakten Thema liegt. „Was bedeutete die Beobachtung des Mannes, der auftauchte und verschwand, für das Atommodell? Existierten Elektronen nur als solche, wenn sie beobachtet wurden, nicht aber, wenn sie nicht beobachtet wurden? Gäbe es folglich auch keine Bahnen, auf denen Elektronen um den Atomkern kreisten?“ Das sind zweifellos wichtige Fragen, die allerdings nicht jede Leserin und jeden Leser brennend interessieren werden. Oder doch? Wie auch immer – klar ist jedenfalls, dass es hier weniger um rationale Antworten auf physikalische Phänomene geht als vielmehr um den verstörenden „Schwindel“, der den jungen Wissenschaftler erfasst, um Zwischenzustände und Unschärfen, um die Nebel, die sich vielleicht lichten, um das Sehen und das Wahrnehmen und das Staunen. „Hatten nicht auch Maler begonnen, die Dinge auf eine Weise zu sehen, wie sie sich im Alltag nicht darstellten?“ Man darf sich bei der Lektüre dieser denkwürdigen Novelle durchaus an das erinnert fühlen, was Robert Musil einmal „taghelle Mystik“ genannt hat. Am Ende des Textes, nach allerlei Irrungen und Wirrungen, hat der junge Wissenschafter aus seinen ungewöhnlichen Wahrnehmungen eine konsistente Theorie entwickelt.

Er blieb einen Augenblick in der Tür stehen, blickte zurück in das kleine Zimmer, in dem er vielleicht die intensivsten Stunden seines Lebens verbracht hatte … Dann sagte er seiner Zimmerwirtin auf Wiedersehen, die nicht ahnen konnte, dass in ihrem Haus ein weltenstürzendes Gesetz gefunden worden war … Ihm wurde bewusst, dass seine Theorie nichts Geringeres als eine neue Physik und durch sie ein anderes Verständnis unserer materiellen Welt mitbegründen würde.

Fast überflüssig zu erwähnen, dass Christian Haller einen sprachlich und stilistisch perfekten Text vorgelegt hat, der auch mit bestechend schönen Konjunktiven nicht geizt. Die Lektüre von Sich lichtende Nebel ist allemal eine wohltuende, genussreiche Erholung von den allfälligen Sprachschludrigkeiten des Alltags. Und man bekommt eine außergewöhnliche, das Denken anregende Geschichte erzählt, die „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ kunstvoll zu gestalten weiß.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien zuerst in viceversaliteratur.

Titelbild

Christian Haller: Sich lichtende Nebel. Novelle.
Luchterhand Literaturverlag, München 2023.
122 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630877334

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