Kopfkino mit versperrtem Notausgang

Zu Jürg Halters Prosatheater „Mondkreisläufer“

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf die Frage, worin in postmodernen Zeiten die Unterschiede zwischen einem Prosatext und einem Theaterstück bestehen, kann man entweder eine lange Antwort geben oder lange schweigen. Beides wäre ehrlich. Im Laufe der Kulturgeschichte(n) veränderten sich künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten aufgrund verschiedenster Einflüsse und Entwicklungen auf formaler sowie inhaltlicher Ebene. In Zeiten der Postmoderne sind nun viele der einstigen Genregrenzen verschoben worden oder haben sich gar aufgelöst. Ein scheinbar banaler, aber zentraler Unterschied zwischen Prosatext und Theaterstück hat jedoch bis heute überlebt: Das Theaterstück wird nach wie vor für die Bühne geschrieben. Es entfaltet seine Wirkungskraft erst in vollem Ausmaß in der Inszenierung. Doch was geschieht, wenn ein Prosatext sich eine Bühne schafft?

Dies lässt sich an Jürg Halters neustem Werk ablesen. Der Schweizer Künstler, der sich selbst – durchaus berechtigt – als Musiker, Autor und Performancekünstler bezeichnet, hat mit Mondkreisläufer sein siebtes Buch veröffentlicht. Der Titel mag einigen bereits zu Ohren gekommen sein – im wahrsten Sinne des Wortes: Vor einem Jahr debütierte Halter mit eben jenem Stück, das damals den Untertitel Eine Heimsuchung in vier bis unendlich vielen Akten trug, am Konzert Theater Bern. Jetzt ist es in etwas überarbeiteter Form im Menschenversand Verlag als Prosatext erschienen.

Das Buch ist aufgeteilt  in eine Vorrede und vier Kapitel, ehemals die vier Akte. Die Nähe zum Theater zeigt sich bereits im ersten Satz der Vorrede, wo der Leser Regieanweisungen zur Textverwendung erhält: „Stellen Sie sich an eine Bushaltestelle und deklamieren Sie den nachfolgenden Text. Kümmern Sie sich nicht um die Reaktionen – auch wenn diese ausbleiben.“ Wem das Deklamieren an Bushaltestellen nicht liegt, bekommt Alternativen angeboten. Wichtig erscheint die den Text begleitende Handlung zu sein, begünstigend sind zudem das Hören und auch das Verkleiden – eben wie im Theater: „Bauen Sie sich einen geschlossenen Raum, spielen Sie darin nachfolgenden Text. Teilen Sie sich in Sprecher und Publikum auf. Ziehen Sie dazu eine weiße, reduzierte und sportliche Uniform an*.“

Das sich auf die Uniform beziehende Sternchen verrät, dass diese nicht unbedingt selbst zu schneidern sei, sondern in „irgendeinem Laden“ auf uns wartet und „wie angeworfen passen“ wird. Beschreibt Halter hier tatsächlich einen Theatersaal oder einen Raum in einer psychiatrischen Anstalt? Das Vorwort endet esoterisch-pathetisch mit der Zuweisung der Leser-Rolle: „Werden Sie Medium einer Stimme, die in verschiedenen Tonlagen durch Sie spricht. […] Seien Sie bereit, Ihre Existenz ordentlich in Frage zu stellen; zumindest während der Lektüre.“ Mit dem Weiterlesen akzeptiert der Leser stillschweigend die ihm zugeschriebene Rolle und wird, ob er will oder nicht, in diese auch gedrängt.

Die Überschrift des ersten Kapitels spielt mit „Die Verführung – die Entführung“ auf eine enge Verwandtschaft an, die zugleich sehr treffend die nachfolgende Leseerfahrung ankündigt. In beiden Situationen wird gegen den Willen des Entführten beziehungsweise Verführten gehandelt, doch die Methoden sind geradezu gegensätzlich. Während in der Verführung ein Reiz und eine Anziehungskraft liegen, deren manipulierender Wirkung der Wille nachgibt, um sich aus „sinnlicher Überzeugung“ hinzugeben, verzichtet die Entführung auf Manipulation und überwindet jegliche Art von Widerständen mit Gewalt.

So beginnt das erste Kapitel mit einem nonchalanten Verführungsversuch des Erzählers, der sich als Gedanke im Kopf des Lesers präsentiert, um ihn zu einem Gedankenexperiment zu überreden: „Hey, halt mal an, mach Dich locker, lass mich Dir durch den Kopf gehen. Lass sehen, was dabei rauskommt.“  Das Anbandeln des Erzählers erfolgt nicht allein über das Vertrauen und Vertrautheit suggerierenden Duzen, sondern auch über Komplimente: „Du denkst, also bist du toll!“

Zur verführerischen Strategie kommt nun das gewaltsame Pendant, denn „niemand ist befugt den Raum zu verlassen, die Türen sind geschlossen, auch die Notausgänge können nicht mehr benutzt werden […] Keine Angst, nichts wird passieren, es ist bereits passiert.“ Noch lässt sich für den Leser nicht erkennen, ob es eine Verführung oder Entführung wird. Dem Gedankenexperiment wird vom Erzähler im Kopf des Lesers nach und nach eine Bühne errichtet – und außer dieser Bühne, diesem einen Raum, existiert nichts mehr: „Draußen? Mehr als hier ist nicht. Trainiere dir das aus dem Sinn! […] Willkommen in der neuen Wirklichkeit!“.

Diese neue Wirklichkeit zu verstehen, wird dem Leser jedoch nicht leicht gemacht. Puzzleartig gestreute Informationen und die oft zusammenhanglos und wirr wirkenden Kommentare des Erzählers erschaffen ein Labyrinth aus Assoziationen, Gedanken und Formulierungen, in dem der Leser orientierungslos umherirrt. Der Erzähler spricht von „Schicksalsgemeinschaft“, von der „Suche nach der Mutter“, von „Selbstbestimmung, Demokratie und Gelassenheit als Begriffen aus einer anderen Zeit“, von „Fremdbestimmtheit“ als Normalfall, von „Rückführung“ und empfiehlt das Schreiben von „Schmerzprotokollen“. Erst mit der Gratulation zum „Wiedergeburtstag“ erfolgt der entscheidende Hinweis, um trotz aller fortbestehender Unsicherheiten zumindest den eigenen Standort zu lokalisieren: Der Leser befindet sich in einem Raumschiff auf der Suche nach seiner Mutter, die auf dem Mond vermutet wird. Dabei ist die Reise zum Mond, die hier erzählt wird, zugleich eine Reise zurück in den Leib der Mutter.

Das Angenehmste an Jürg Halters Büchlein ist, dass es sich selbst nicht ernst nimmt. Während der Erzähler im zweiten Kapitel „Die Unterwerfung – die Auflösung“ unter anderem die moderne Leistungsgesellschaft vorführt, weiß er sich und sein Werk selbstironisch zu inszenieren: „Schau mich an, mein Einsatz ist unermüdlich. Ich arbeite wie ein Gestörter. Ich gehe in der Arbeit auf. Meine Performance ist ein Hit. Ich punkte mit Bescheidenheit und Natürlichkeit.“ Und als wäre es die Vorwegnahme zu erwartender Kritik, imaginiert der Erzähler ein Interview, „in dem ich nie konkret werde, was mich und meine Geschichte mit dem Mond angeht, und obwohl ich nichts als schöne Floskeln von mir gebe, werde ich als hochinteressant, als anders, als befreiend verstanden – eine unbestimmte Offenbarung“.  Zugegeben, ein solches Urteil ist außerhalb der erzählten Welt für das Werk eher unwahrscheinlich. Zwar lädt so manche Formulierung zum Schmunzeln ein, manche ist jedoch schlicht platt; und mit einer Offenbarung hat der Text bestenfalls den gelegentlich erhobenen sektenstiftenden Ton des Erzählers gemeinsam.

Im dritten Kapitel, das den Titel „Die Freiheit – die Unfreiheit“ trägt, erprobt sich der Erzähler, so scheint es auf den ersten Blick, im Verfassen von Ratgeberliteratur. Der Leser erfährt, dass er zum Französischlernen in die Schule gehen kann, besser aber noch nach Frankreich. Paris oder Marseille würden sich anbieten, dort könnte man eine Bäckerei eröffnen. Um den roten Faden zum Mondreisethema nicht ganz zu verlieren, könnte – als Alternativ zur Bäckerlaufbahn – auch die Regierung für den Bau eines Raumschiffes um Unterstützung gefragt werden. Es mangelt nicht an Ratschlägen oder schlagkräftigen Parolen wie „Gib dich endlich der Liebe hin!“, „Hey, gestalte die Welt mit!“ oder „Zelebriert den Frieden!“. Die zugespitzten Beispiele von schier unbegrenzten Möglichkeiten des Lebens  (die Freiheiten) erscheinen zwar oft absurd, doch sie erinnern den Leser an die gelungen-ironische Darstellung der Leistungsgesellschaft, in die sich Menschen zwängen lassen (die Unfreiheiten) und die gerade durch ihre Realitätsnähe nicht weniger absurd erscheint.

Die Stärken und Schwächen des Textes sind jeweils konzeptuell erklärbar, doch ein bis zuletzt störender Aspekt ist das ständige Kokettieren mit der Ambivalenz. Auf inhaltlicher Ebene kann dies durch den oft selbstironischen und dem Wahnsinn immer näher kommenden Erzähler aufgefangen werden, doch auf formaler Ebene ist es zunehmend anstrengend: Die Überschriften vereinen Gegensätzliches, die Erzählerstimme spricht aus verschiedenen Rollen und gibt gleichzeitig vor, nur im Kopf des Lesers zu sein, die Widersprüche und Rätselhaftigkeiten der Geschehnisse und nicht zuletzt das Motiv des Mondes selbst schlagen dem Leser die Ambivalenz des Textes wie einen nassen Lappen um die Ohren. Schon das Leitmotiv des Mondes wird mehr als ausgereizt: Als Ursache für Ebbe und Flut gilt der Mond gleichzeitig als Symbol der ständigen Erneuerung, als Herrscher über die Zeit und als Fruchtbarkeitssymbol. Selbst die Gezeiten hat der Erzähler in seinen Text eingebaut; so fordert er den Leser bei einem Picknick auf dem Mond auf, „über die Ebbe und die Flut am Grunde deines heimatlosen Herzens“ nachzudenken, denn „für die Hebungen und Senkungen deines Herzens ist der Mond verantwortlich.“

Für die qualitativen Hebungen und Senkungen des Buches ist gewiss nicht der Mond verantwortlich. Der Text nimmt sich mit „Freiheit“, „Unfreiheit“, „Gesellschaft“, „Individuum „und „Sinnsuche im Leben“ etablierter Themen der Literatur an, wenngleich sie in einer bizarren Rahmengeschichte gesucht werden müssen, macht jedoch zugleich die Lust des Lesers am Entdecken der Inhalte – die es durchaus gibt – durch das ständige Zelebrieren seiner Ambivalenz und seines Kunstcharakters zunichte. Wenn der Leser bis zum letzten Kapitel mit dem vielversprechenden Titel „Die Erlösung – die Verdammnis“ durchhält, wird er mit der grafischen Visualisierung des Auflösungsprozesses des Erzählers „belohnt“: Durch immer zahlreichere Leerzeilen im Text löst sich dieser auf – bis auf der letzten Seite nur noch eine einzige Zeile auf dem Papier steht: „Ist die Erde schon aufgegangen?“ Gewiss: Zur Kunst gehört die Inszenierung, doch manchmal karikiert die Inszenierung die Kunst.

Und wie war das jetzt mit dem Mond? Symbol der ständigen Erneuerung und Fruchtbarkeit, Herrscher über die Gezeiten – und nicht auch Ursache für Migräne?

Titelbild

Jürg Halter: Mondkreisläufer.
Der gesunde Menschenversand, Luzern 2017.
79 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-13: 9783038530565

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