Fragmente einer neuen Sprache des Rechts

Die nachgelassenen Reflexionen eines Philologen über die Grundlagen der Gerechtigkeit

Von Oliver KohnsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Kohns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Verfasser dieser Zeilen hatte – dies sei vorangeschickt – die Gelegenheit, Werner Hamacher persönlich zu kennen, und zwar als Doktorand auf seiner letzten akademischen Station in Frankfurt am Main. Als Schüler und Übersetzer Paul de Mans und als Freund Jacques Derridas und Jean-Luc Nancys war Hamacher ein wesentlicher Vertreter der literaturtheoretischen Strömung der Dekonstruktion. Sein Charisma als Forscher und Lehrer war immens, sein philosophisches und literarisches Wissen einschüchternd – keineswegs nur, wenn es um Autoren wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Immanuel Kant, Paul Celan oder Walter Benjamin ging. Vor allem zeichnete ihn aber eine herausragende intellektuelle Originalität, Klarheit und Strenge aus, verbunden mit einer unerbittlichen Hartnäckigkeit, sich niemals mit hergebrachten oder oberflächlichen Urteilen zufrieden zu geben.

Hamacher hat es verstanden, das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main zu einem Ort intellektueller Freiheit und wissenschaftlichen Austauschs zu machen. Dass seine Insistenz auf radikaler akademischer Freiheit und intellektueller Kompromisslosigkeit in Forschung und Lehre in Zeiten der Bologna-Reform sowie nachfolgender Verschulung der Universitäten und in Zeiten der konzertierten und allein darum schon modischen Trends unterworfenen Forschung in Sonderforschungsbereichen zunehmend unzeitgemäß geworden ist, war ihm vollkommen bewusst: Er verströmte die melancholische Aura eines Denkers, der die großen Zeiten der geisteswissenschaftlichen Abenteuer noch erleben konnte. Der Verfasser, kurzum, konnte von Werner Hamacher lernen, dass unbedingte Ernsthaftigkeit als Grundlage intellektueller Arbeit die Befähigung sowohl zum Humor als auch zur Selbstironie unbedingt einschließen müssen. Nachdem er im Sommer 2017 zu früh gestorben ist, fehlt seine Stimme der akademischen Welt vehement.

Posthum ist der Band Sprachgerechtigkeit erschienen, an dem Hamacher in den letzten Jahren seines Lebens gearbeitet hat. Er konnte die Arbeit an dem Text nicht mehr abschließen. Das nun publizierte Buch versammelt eine Reihe von – teilweise bereits veröffentlichten – Essays, die als Teil beziehungsweise im Umfeld dieser Arbeit entstanden sind. Die Texte kreisen um das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit bei einigen Klassikern der politischen Philosophie – von Aristoteles bis Thomas Hobbes, Karl Marx und Hannah Arendt – sowie bei literarischen Autoren wie John Milton und Paul Celan.

Das Hauptthema, um das all diese Texte kreisen, ist die Grundfrage nach dem, was Recht ist und sein soll. Die Tradition der politischen Philosophie bestimmt die Struktur des Rechts nach dem Prinzip der Entscheidung: Es ist demgemäß die Aufgabe des Rechts, Entscheidungen herbeizuführen, ein juristisches Urteil zu finden. Die „aus sich selbst bedingte, von sich geleitete“ Entscheidung ist in der aristotelischen Theorie die Grundlage für ein Handeln, das den Werten einer politischen Gemeinschaft angemessen ist. Umgekehrt wird damit das ‚gerechte‘ Handeln sowie die richtige Entscheidung durch ihren Wert für das Fortbestehen und die Vereinigung der Gemeinschaft bestimmt. Mit anderen Worten wird die „Selbsterzeugung, die Selbstvergegenwärtigung und Selbstvervollkommnung“ des politischen Gemeinwesens in dieser Tradition seit Aristoteles zur Definition von Gerechtigkeit (und also zum Maßstab der gerechten Entscheidung) herbeigezogen.

Hamacher formuliert einen dezidierten Widerspruch gegen diese Tradition, das Recht und die Gerechtigkeit zu definieren. Die Sprache der Entscheidung, formuliert Hamacher, sei die „Sprache der Entsprachlichung“, das heißt der schnellstmöglichen Beendigung des sprachlichen Austauschs zugunsten einer juridischen Lösung von sozialen oder politischen Problemen. Vor allem aber sei die Struktur der Gerechtigkeit als Entscheidung ungerecht – insofern sie stets eine Sphäre des Abgewehrten, Ausgegrenzten und zum Schweigen Gebrachten produziert, welches all das ist, das nicht aktiv Teil der politischen Gemeinschaft und ihrer Urteilsfindung sein kann. Thematisiert wird dieses Ausgeschlossene in der antiken Tragödie, etwa in dem Konflikt zwischen Antigone und Kreon in Sophokles Antigone. Von Kreon als Verräter Thebens verurteilt, kann Antigones Bruder Polyneikes nicht Teil der Gemeinschaft sein und in ihr folglich keine Gerechtigkeit erfahren. Der Tote, für dessen Recht Antigone eintritt, bleibt so „unter dem Gesetz des Kreon ein Unbestimmtes und muss zu einem vom Gesetz Ausgeschlossenen, Geächteten und Verbotenen erklärt werden“. Antigone führt in dieser Perspektive eine Form der Gerechtigkeit vor, die nicht die Gerechtigkeit der Entscheidung, nicht das Recht als Selbstverwirklichung der politischen Gemeinschaft ist.

Man kann die politische Relevanz und Aktualität der hier verhandelten Problematik wohl kaum hoch genug schätzen. Die Frage der Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit des Rechts beschäftigt die deutsche und europäische Politik seit Jahren in unerhörter Dringlichkeit. Reaktionäre Politiker mit verschiedenen Parteibüchern pochen auf Gesetzmäßigkeit und die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, wenn es darum geht, Menschen in existentieller Not keine Einreise nach Europa zu gestatten beziehungsweise ihnen nicht das Leben zu retten. Dass diese Gesetze klar erkennbar mehr durch den Willen zur Besitzstandwahrung der Wohlhabenden – sowie zur Verbreitung panischer Angst vor dem Fremden bei den Beeinflussbaren – geformt sind als durch Menschlichkeit und Anstand, spielt in dieser Argumentation dann kaum mehr eine Rolle. Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen kann dann plötzlich als reine Gesetzestreue interpretiert werden. Die „Reduktion der Politik auf ein Bestandsicherungsverfahren war das Ende der Politik“, formuliert dagegen Hamacher.

Freilich ist seine Kritik an den Menschenrechten nicht in erster Linie als Kommentar zu der humanitären Krise an den Grenzen Europas zu verstehen; es wird allerdings deutlich, dass die theoretische Analyse der Instituierung der Menschenrechte niemals bloß abstrakt bleibt und auf die politische Aktualität bezogen werden kann. Hamachers Analyse zielt jedoch primär darauf, die der Idee der modernen Menschenrechte zugrundeliegende Rechtsstruktur zu identifizieren, das heißt ihre theoretische Grundlegung sowie die durch sie initiierte Bestimmung des Menschen. Die Erörterung der juristischen und philosophischen Grundlagen der Menschenrechte schließt an die Arbeiten von Marx und Arendt an, geht aber über Arendts Argument hinaus, demzufolge die Menschenrechte seit 1791 stets und ausschließlich mit Bürgerrechten verknüpft worden seien, weshalb der Verlust der Bürgerrechte notwendigerweise auch den Verlust der Menschenrechte bedeutet.

An Arendts Arbeit anschließend, doch radikaler, beschreibt Hamacher das grundlegende Rechtsverständnis als das Grundproblem der Menschenrechte. Die Rechtsstruktur der Entscheidung bestimme den „Menschen durch den Staatsbürger und also nicht als gesellschaftliches, sondern als politisches, nicht als soziales, sondern als staatliches Wesen“. Diese Operation bedinge eine „Reduktion des Wesens, der Freiheit des Menschen auf einen Rechtsanspruch“ sowie eine „Amputation des Menschen zu einem Rechtsgegenstand“. Gefragt wird hier, mit anderen Worten, nach der strukturellen Rechtsform, die die moderne Idee der Menschenrechte geformt hat – und die für die Limitierungen und Aporien dieses Konzepts verantwortlich ist.

Weit mehr aber als nur eine kritische Analyse der europäischen Tradition der Rechtsstrukturen, richtet sich der Fokus gleichermaßen auf alternative Rechtsformen, die nicht eine Reduzierung des Rechts auf Entscheidung und des Menschen auf ein Rechtssubjekt voraussetzen. Gefordert wird eine Form des Rechts und der Sprache, die die Entscheidung suspendiert, das Gesetz aussetzt und den „Richtspruch in ein Gespräch der Streitparteien verwandelt“: Dialog statt Urteil, Gespräch statt Entscheidung, kurzum eine Sprache, die Sprache fortsetzt anstatt beendet. Hamacher sucht diese Form der Sprache in den Strukturen, die nicht-prädikativ funktioniert, das heißt der Struktur des Urteilssatzes (x ist y) folgt: Die Bitte, das Gebet, der Wunsch, das Ansinnen, der Anspruch oder die Zumutung sind keine Urteile über gegebene Sachverhalte, sondern sie sind Elemente einer Sprache der „Zuwendung“, der sozialen Interaktion. Diese Elemente der Sprache beenden, mit anderen Worten, den sprachlichen Austausch nicht – wie das Urteil –, sondern sie beginnen und setzen fort. Wie diese nicht-prädikative Sprache insbesondere die Sprache der Literatur prägt, führt Hamachers Celan-Lektüre vor: die Verse eines Gedichts werden interpretierbar als „Verse eines Gesprächs über die Struktur der Gerechtigkeit“, das im intertextuellen Austausch mit Benjamin und Franz Kafka geführt wird.

Hamachers Arbeit über Sprachgerechtigkeit stellt als eine Meditation über die Grundlagen und die Sprache des Rechts eine anregende Lektüre für alle dar, die sich für Rechtstheorie und -geschichte, die Kritik der Menschenrechte sowie für das Verhältnis zwischen Literatur und Recht interessieren. Es ist zu hoffen, dass das Buch eine ihm angemessene Rezeption erfahren wird.

Titelbild

Werner Hamacher: Sprachgerechtigkeit.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
400 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783100324597

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