Die Geister der Meere
Samuel Hamen geht dem ambivalenten Ruf der Qualle auf den Grund
Von Rebecca Siegert
Unerreichbar fern flimmert dieses softe Gespenst
durch blaue Räume, die wir nie betreten werden.
Sommerferien an der Ostsee Ender der 90er – erst einmal nichts Besonderes. Ein typisch deutscher Familienurlaub eben. Jedes Jahr ging es nach Mecklenburg-Vorpommern ins Ostseebad Boltenhagen. Warum verweilte ein junges Mädchen stundenlang im kalten Wasser, bis ihre Lippen blau wurden? Was konnte ein Kind, für das dieser kleine Kurort vermeintlich nichts Aufregendes mehr bot, plötzlich so faszinieren? Es waren die kleinen durchsichtigen Wesen, die sich gemächlich durchs Wasser bewegten wie Geister, Geschöpfe einer anderen Welt. Die zugleich glatte und weiche Oberfläche des Schirms mit dem kleeblattförmigen Muster, und darunter etwas, das aussah wie ganz kleine Härchen. Es handelte sich, wie das Mädchen viel später erfuhr, um die sogenannte Ohrenqualle, nur eine der über tausend Quallenarten auf der Erde.
Samuel Hamen stellt in Quallen, aus der Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz, dieses häufig so missverstandene Tier vor, geht auf seine Darstellung in Kunst und Kultur und sein vermehrtes Auftreten aufgrund des Klimawandels ein und wird seiner vielfältigen Farbenpracht mit wunderschönen Illustrationen und beeindruckenden Fotografien gerecht. Wieso ist die Qualle zugleich angsteinflößend und interessant?
Die Qualle wird häufig als „weiblicher Dämon“ bezeichnet, als gefährliche Medusa, wobei dieses Wort im wissenschaftlichen Sprachgebrauch nur das Lebensstadium eines Nesseltiers beschreibt. Das Verhalten der meisten Quallen zeigt auch, dass viele Menschen ein falsches Bild von ihnen haben. Sie ernähren sich von Plankton und bewegen sich pulsierend mit der Meeresströmung. Die Charakterisierung durch Worte wie Aggressivität und Angriff, der sie beispielsweise in Comics ausgesetzt sind, in denen es riesigen, quallanartigen Monstern gelingt, Superman in ihre gefährlichen Tentakel zu bekommen, wird der Qualle nicht gerecht. Ja, es gibt giftige Arten und diejenigen, die im Vergleich zu anderen bei Berührungen sehr gefährlich sein können, wie die Seewespe, deren Gift zum Tod führen kann. Verdient die Qualle im Allgemeinen aber die Darstellung des böswilligen, aggressiven Tiers?
Auf der anderen Seite wird sie seit einigen Jahren „als Design-Accessoire, als Deko-Motiv, grundsätzlich als Symbol des Zeitgeists“ begriffen. Sie wird als LGBTQ-Symbol eingesetzt: „indeterminiert, radikal soft, fluide“ – und heteronormative Standards sowie das Patriarchat werden durch die Quallensymbolik kritisiert.
Hamen liefert darüber hinaus eindrucksvolle Fakten über dieses vielfältige Tier. Es gibt eine Art, die sich durch Zellerneuerung regenerieren kann, eine Qualle, die sich selbst verjüngt. Außerdem pflanzt sich ein Teil der Arten ungeschlechtlich fort. Zum Beispiel ist die Replikation einer Meduse möglich, wobei sich der Magen teilt und daraus zwei Tiere entstehen.
Am Ende des Buchs sind einige Portraits von Quallenarten aufgeführt, von der bis zu 2 Meter großen Nomura-Qualle bis zur millimeterkleinen Süßwasserqualle. Durch die Vielzahl der Portraits wird abschließend noch einmal die Vielfalt dieser faszinierenden Tiere aufgezeigt.
Ein Hin und Her aus besorgniserregenden und anziehenden Eigenschaften, aus angsteinflößenden und bezaubernden Arten und aus gefährlicher und aktivistischer Darstellung – die Qualle befindet sich nach Hamen zwischen Dystopie und Utopie. Er schlussfolgert gegen Ende des Buchs:
Es gibt gute Gründe, ihr nicht zu nah zu kommen […] Die Wertschätzung kann schließlich auch darin liegen, die Distanz zu wahren, anzuerkennen, dass unbedingte Nähe nicht nur affirmativ, sondern auch aufdringlich sein kann.
Gespannt hielt das kleine Mädchen die Luft an, steckte den Kopf ins Wasser und sah sich aufmerksam um. Diese fremde Welt und ihre Bewohner kennenlernen, das Unbekannte, das Mystische, im wahrsten Sinne des Wortes, in eine andere Welt eintauchen. Gerade wollte sie die Qualle berühren, schreckte im nächsten Moment aber vor der glibberigen Masse zurück.
Und so wie Hamen es nahelegt, entschied sie sich für ein fasziniertes Staunen vom Strand, aus der Ferne.
![]() | ||
|
||
![]() |