Hartmut Steinecke († 25. Januar 2020)

Freundschaftlicher Nachruf (Trauerfeier, 01. Februar 2020)

Von Norbert OellersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Oellers

Barmherzige Brüder singen in Schillers Wilhelm Tell, nachdem sie um den getöteten Geßler einen Halbkreis gebildet haben, „in tiefem Ton“, wie die Szenenanweisung lautet: „Rasch tritt der Tod den Menschen an, / Es ist ihm keine Frist gegeben“ – Verse, die wir alle in der Anzeige mit der bestürzenden Nachricht vom Tod Hartmuts gelesen haben. Sie lindern nicht unsern Schmerz, sie belehren uns fast gnadenlos über das schmerzlich Erfahrene, wie auch die beiden folgenden Verse des Lieds: „Es stürzt ihn mitten in der Bahn, / Es reißt ihn fort vom vollen Leben“. Hartmut Steinecke – einer der, wie hoffentlich bald zu lesen sein wird, angesehensten deutschen Germanisten des letzten halben Jahrhunderts – hat die vielen Ehrungen, die in der Anzeige erwähnt werden, allesamt verdient  – nicht nur für seine wissenschaftlichen Arbeiten, sondern auch für seine immer engagierte Kooperation mit seinen Kolleginnen und Kollegen sowie für seine Lehrtätigkeit, über deren Qualität ich von seinen Schülern (einige weilen unter uns) gelegentlich erfuhr, nicht zuletzt für sein soziales Engagement.

Über seinen akademischen Weg sei das Vielen von Ihnen Bekannte kurz zusammengefasst: Zu seinem 4. Semester (dem Wintersemester 1960/61) kam Hartmut nach Bonn. Nachdem wir uns kennen gelernt hatten, dauerte es nicht lange, bis wir uns befreundeten und in unseren Studien förderten, so in den von Benno von Wiese geleiteten Oberseminaren, die wir gemeinsam besuchten. Unser Lehrer nahm uns 1963 und 1964 als Mitarbeiter an, so dass wir Zeit hatten, unsere Dissertationen zu schreiben, die dann auch im Abstand von einem Jahr (1965 und 1966) fertig wurden. Hartmuts bald im Druck erschienene Arbeit Hermann Broch und der polyhistorische Roman zeigte seine wissenschaftlichen Interessen und Fähigkeiten aufs deutlichste: auf bisher wenig bestelltem Feld zu graben, zu säen und dann auch zu ernten, Gewissheiten mit Ansichten mischend, die den Leser fast stets überzeugen, dass ohne sie, die philologisch begründeten Ansichten, die behandelte Literatur nicht erhellt, d. h. nicht im eigentlichen Sinn verstanden werden kann. Was die Dissertation ferner auszeichnet, blieb ein Gütesiegel auch der späteren Arbeiten des Freundes: die souveräne Disposition des zusammengetragenen Stoffes sowie die unmissverständliche Klarheit der Diktion. Und dies sei noch bemerkt: unter den von Goethe so genannten „Naturformen der Dichtung“ (Epik, Dramatik, Lyrik) bevorzugte Hartmut bis in die jüngste Vergangenheit die Epik, der vielleicht 90 % seiner Arbeiten (von Goethe bis Herta Müller) gelten. – Nach einem Jahr in Chicago kamen Christa und Hartmut (die seit einem Jahr verheiratet waren) nach Bonn zurück; er bekam hier eine Assistentenstelle, zunächst bei Benno von Wiese, dann bei Helmut Koopmann. Das erste Kind kam zur Welt, und schon wurde an die Habilitation gedacht, die sich 1973 ereignete. Die sie begründende Schrift Romantheorie und Romankritik in Deutschland, begleitet von einem Quellenband, wurde zu einem Standardwerk unserer Wissenschaft und trug nicht wenig dazu bei, dass Hartmut bereits 1974 einen Ruf auf die Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn bekam. Er blieb dieser Universität, trotz etlichen Abwerbungsversuchen (nicht zuletzt von ausländischen Universitäten), treu, wie er seinen sich mehrenden Freunden stets treu blieb.

Zu Hartmuts wissenschaftlichen Arbeiten, die ihm ein dauerndes Ansehen sichern, gehören die jahrzehntelangen Mitherausgeberschaften:  der Zeitschrift für deutsche Philologie, der Philologischen Studien und Quellen, des E. T. A. Hoffmann-Jahrbuchs, der historisch-kritischen Lenau-Ausgabe, der E. T. A. Hoffmann-Ausgabe in der Bibliothek deutscher Klassiker u. a.; außerdem die Herausgabe des voluminösen Bandes Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts, der Jenny Aloni-Ausgabe u. a. Die Gründung des Jenny Aloni-Archivs in Paderborn (1992) ist ihm zu verdanken wie die Etablierung der Gastdozentur-Einladungen nach Paderborn (Jahr für Jahr seit 1984) und die Anregung zur Erschließung der Bibliothek Corvey mit der Gründung des Corvey-Instituts für Buch- und Bibliotheksgeschichte an seiner Universität (1999). Manches wäre noch zu erwähnen und zu würdigen (etwa 15 selbstständig erschienene Schriften und über 100 Aufsätze), aber es sei mit der Aufzählung genug; sie zeigt, mit welcher Intensität Hartmut über seine Emeritierung 2005 hinaus der deutschen Literaturwissenschaft verbunden war; und es sei vorausgesagt, dass sein Wirken nicht vergessen wird, solange sein Fach an Schulen und Hochschulen vertreten wird.

Seit fast 60 Jahren waren wir befreundet, wir waren „die besten Freunde“, über 100 Mal besuchten wir uns hier oder dort (zuletzt am 15./16. November vergangenen Jahres); sicher 20 Mal förderten wir unser Befinden (vielleicht auch unsere Leistungen) auf Tagungen. Hartmut hatte eine seltene, eine beneidenswerte Begabung: Sachlichkeit mit Herzlichkeit zu verbinden, stets wohltemperiert zu sein, nie zu streiten, nie zu polarisieren (allenfalls zu mahnen). Er brachte nichts auseinander, aber viel zusammen. Seine Loyalität, seine Großzügigkeit, sein Verständnis für Fehler ihm Nahestehender waren außerordentlich. Wie oft hat er bewiesen, dass Goethe mit seiner Maxime [aus dem Nachlass; MA 17, S. 868] recht hatte: „Man kann niemand lieben, als dessen Gegenwart man sicher ist, wenn man sein bedarf.“ Wie oft werden wir nun noch von der Vergangenheit sprechen, vielleicht schwärmen? Vielleicht werden wir noch gelegentlich weinen; die Trauer werden wir nie verlieren. Aber die Erinnerungen halten auch Tröstliches bereit, und bestehende Freundschaften helfen uns gewiss.

Mit Versen Schillers habe ich meine viel zu kurze Würdigung meines Freundes begonnen, mit einem Satz des Dichters, der als Trostangebot für uns alle aufgenommen werden mag, will ich schließen: „Der Tod kann kein Uebel seyn, weil er etwas Allgemeines ist.“ Schillers geliebte Schwägerin Caroline von Wolzogen hat versichert, der Dichter habe mit diesem Satz ein Gespräch über den Tod beendet. (Schillers Leben, 1830, T. 2, S. 272.)

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen