Ein kalter Blick auf die Vergänglichkeit

Harald Hartungs lyrisches Spätwerk „Das Auto des Erzherzogs“ ist eine nüchterne Lebensfeier

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum 85. Geburtstag Harald Hartungs erscheint mit Das Auto des Erzherzogs ein Gedichtband, der Erinnerungen des Lyrikers Raum gibt – Erinnerungen an Begegnungen, an Rudi Dutschke, Straßenfeger, seinen Vater sowie Reverenzen an Bertolt Brecht. Erinnerungen an Reisen nach Paris, an die Moldau und nach Italien. In vier Gedichtzyklen entsteht das Bild einer illusionslosen Lebensfeier, die auf der Erfahrung eines langen Lebens fußt und die das Leben in letzter Konzentration reflektiert.

Hartung besuchte die Gallerie dell’Accademia in Venedig und fand das Kreuzeswunder auf der Brücke von San Lorenzo von Gentile Bellini. Sein Gedicht über das Bild ordnet es neu und deutet den im Bild dargestellten Sachverhalt um. Der Blick wird von der Rettung des Kreuzes auf denjenigen gelenkt, der am Rande steht und die Arme ausbreitet, „als meinte ihn das Wunder: ihn allein“. Die Dominanz der vertikalen Verbindung des Kreuzes von Gott und Mensch wird ersetzt durch die Betonung der horizontalen Verbindung der ausgebreiteten Arme als Symbol der Verbindung der Menschen untereinander. So erschafft Hartungs Sprache eine neue Wirklichkeit. Die Folge ist eine Konzentration auf das Sichtbare, geistige Klarheit und Verständlichkeit versus allmächtige Kräfte.

Die Vergänglichkeit des Lebens in allen nüchternen Facetten ist ein zentrales Thema der Gedichte. „Morgen kommt alles/ auf den Kompost“. Kurze, unverstellte Resümees prägen die Zeilen. Ob eine Metzgerei geschlossen und danach in ihrem Verkaufsraum eine Boutique eröffnet wird oder in Rüdesheim der Weinstand für den Winter abgebaut wird und die Weinlese beendet ist, immer bleibt alles in Bewegung und ohne übersinnliche Hoffnung. Veränderungen, die unaufhaltsamen Fortgang der Zeit betonen, dominieren den Resonanzraum der Gedichte. Wenn dann der Mann, „der die Sense wetzt“, auftritt, schallen die Lieder von der Vergänglichkeit laut. Das lyrische Ich erhält im Crescendo die Diagnose Krebs und wähnt sich selbst bereits im Grab. Hilflos wird ergänzt, dass die Diagnose von netten Ärzten übermittelt wurde. Doch dieser trockene Humor, dieses Ausweichen verstärkt das Pathos und den Eindruck der Verletzlichkeit. In der akuten Bedrohung durch den Tod verliert das Ich seine Gelassenheit, die es bei der Betrachtung der Malerei in Venedig noch zeigte, was sich wiederum in bewussten rhythmischen Variationen widerspiegelt.

Vielfältig sind die Tonlagen, über die Hartung verfügt. In metrischer Bindung klingt das Vanitas-Motiv an, manchmal gibt sich der Autor gar dem Zwang des Reims hin, doch viele Verse nähern sich der Prosa an. Gezielt setzt Hartung prosahafte Gefüge und Dissonanzen ein, um ein Motiv der Unbeugsamkeit, Kraft und nüchternen Ratio einzubringen. Rhythmische Unterteilungen bilden Widerhaken, an denen der Leser aufhorchen muss. Dabei wird auch der Vorgang des Schreibens reflektiert und infrage gestellt. „Ich schreibe es hier auf, so/ als wäre es ein Gedicht“. Die Zurücknahme ist ein Bekenntnis des Dichters zur Offenheit.

Dieses Bekenntnis spricht er nicht zum ersten Mal aus. Die Bezüge zu früheren Werken Harald Hartungs sind ebenfalls deutlich. Das Gedicht Vaters Musik evoziert beispielsweise mit der Erinnerung an den „Winterhimmel“ eine direkte Verbindung zur Wintermalerei. Unter diesem Titel erschien 2010 ein Gedichtband, den Hartung dem Andenken seiner Eltern widmete. Auch in Wintermalerei waren das Altern und der Tod zentrale Themen. In Das Auto des Erzherzogs verliert die Religion trotz dieser Themen weiter an Bedeutung. Schon in Wintermalerei wurden Engel als Druckfehler bezeichnet.

Statt eines Engels erscheint dem Dichter die „Muse des Alters“, die er früher verstieß und die ihn nun nachts besucht. Sie scheint dem klaren, nüchternen Blick auf die Vergänglichkeit die romantische Liebe zu opfern. Es leuchten nur die fahle Erinnerung an einen Zungenkuss in der Jugend oder „alte Liebende“ und die Sprache der Liebe im Gedicht Die Möwen vom Kanal auf. Die auf Bellinis Gemälde entdeckte und dann nicht weiter ausgeführte Verbindung der Menschen untereinander, ist – auch im Gegensatz zum früheren Werk des Autors – kein zentrales Thema im Gedichtband. Einen „Blick auf Leben und Welt zu werfen“, wie es der Klappentext vorgibt, und dabei die Liebe auszusparen, ist bemerkenswert – das Buch bleibt damit eine illusionslose Lebensfeier, in der Glauben, Liebe und Hoffnung zu versiegen drohen.

Titelbild

Harald Hartung: Das Auto des Erzherzogs. Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
71 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835331272

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