Lesen als kompensatorischer Heilsweg: steinig, aber lohnend

Mit 35 Jahren Verspätung ist Anselm Haverkamps Habilitationsschrift „Klopstock/Milton – Teleskopie der Moderne“ erschienen

Von Martin A. HainzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin A. Hainz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im vergangenen Jahr erschien eine Monografie, auf die manche Germanisten lange gewartet hatten, denn 35 Jahre sind vergangen, seit diese Schrift als Habilitation vorgelegt wurde. Es handelt sich um die – überarbeitete – Klopstock-Milton-Studie von Anselm Haverkamp, der mit dem Erscheinen dieses Buchs selbst „seit Jahrzehnten nicht mehr gerechnet hatte“.

Man darf vermuten, dass das Buch nicht wegen Klopstock erwartet wurde, der zwar ein großer Dichter ist, dessen „Vorläuferqualitäten“ insbesondere unbestritten sind, der aber ebenso nur mehr wenig beziehungsweise von wenigen Unermüdlichen gelesen wird – was nicht zwingend gegen ihn spricht. Es liegt eher daran, dass Haverkamp zu Recht als brillanter Kommentator und Exeget gilt, was auch das vorliegende Werk keine Sekunde bezweifeln lässt.

Die Grundthese, dass der Fokus auf Verwandtschaften ihn neben jenen verblassen ließ und sogar entstellte, die er antizipiert haben oder denen er gefolgt sein soll, und zwar im Rahmen dieser Studie insbesondere John Milton, ist dabei nicht neu, sie war es auch bei Erscheinen der Habilitation nicht. Die Zuordnung zu Milton, die übrigens schon aufgrund von Übersetzungsversuchen Klopstocks naheliegt, ist eine These Haverkamps, die lange fast schon Common Sense war, weshalb sie beispielsweise bereits Johann Gottfried Herder in den Briefen zur Beförderung der Humanität beklagte:

Man ist gewohnt, Klopstock den deutschen Milton zu nennen; ich wollte, daß beide nie zusammen genannt würden, und wohl gar, daß Klopstock den Milton nie gekannt haben möchte. Beide Dichter haben heilige Gedichte geschrieben; ihre Muse aber ist nicht dieselbe. Wie Moses und Christus, wie das Alte und Neue Testament stehen sie einander gegenüber. Miltons Gedicht, ein auf alten Säulen ruhendes durchdachtes Gebäude. Klopstocks Gedicht, ein Zaubergemälde, das in den zartesten Menschenempfindungen und Menschenszenen von Gethsemane aus über Erd und Himmel schwebet. Die Muse Miltons ist eine männliche Muse, wie sein Jambus; die Muse Klopstocks eine zärtere Muse, die in Erzählungen, Elegien und Hymnen unsre ganze Seele, den Mittelpunkt ihrer Welt durchströmet.

Haverkamp ist seitdem auch nicht der einzige, der sich an dieser „Transversale“, wie er es nennt, abarbeitet, und zwar bis heute – auf meine Studie zu verweisen unterlasse ich, stattdessen sei der kürzlich publizierte Aufsatz Aesthetics of the Holy. Functions of Space in Milton and Klopstock von Jan Oliver Jost-Fritz (Oxford German Studies) erwähnt.

Haverkamp kontextualisiert also Klopstock, wobei er immer neue Bezüge herstellt. Manche bleiben dabei leider wenig entwickelt, Haverkamp muss Klopstock beispielsweise auch darum gegen Gotthold Ephraim Lessings Urteil („Wer wird nicht einen Klopstock loben? / Doch wird ihn jeder lesen? – Nein. / Wir wollen weniger erhoben / und fleißiger gelesen sein“) verteidigen, weil er die Ambivalenz der bekannten Verse ausblendet: Sie sind eine Distanznahme zu Klopstock, doch ebenso eine zeitkritische Frage an die literarische Öffentlichkeit, ob, wenn selbst (!) Klopstock nicht gelesen werde, diese in ihren Urteilen nicht vor allem Eitelkeiten austausche. Der sinkende Stern Klopstocks ist dabei nicht das, was im Zentrum des Interesses Lessings stehen musste.

Haverkamp ordnet jedenfalls Klopstock einerseits in eine Tradition ein, die zu Miltons Paradise Lost die Erlösung formulieren will, andererseits aber auch geradezu zur Autodekonstruktion bereit sei, welche Nina Hagen schließlich bloß an der lyrischen Subjektivität à la Klopstock zu vollziehen habe.

Ferner schlägt er, um nur einige Gedanken des so heterogenen wie anregenden Bandes aufzugreifen, vor, Information hier neu zu verstehen, wenn nämlich die „Zeit […] gefüllter“ sei, doch „ohne Vermehrung der Information“: Klopstock entkopple Sinn von der Vorstellung intersubjektiver oder textunabhängiger Wiederholbarkeit. Auch wird der Begriff des durch Lektüre gebildeten „habitus acquisitus“ diskutiert und fast nebenher Narzissʼ Ertrinken im Wasser mit dem „Eistanz“ auf dem „leeren Spiegel“ verglichen, in einer klugen Lektüre von Der Eislauf, worin Schönheit und Todesdrohung durch den „Quell“, dem „der Tod“ „entrieselt“, zueinander in Beziehung stehen.

Das Referieren oder gar Kritisieren all dessen forderte einen umfangreichen Aufsatz, man ahnt aber wohl längst, dass die Studie einerseits viel aufbietet, andererseits mit ihren Assoziationen und Sprüngen sowie zuweilen gelehrsamen Ausschweifungen (die jedenfalls nicht immer helfen, Haverkamp zu folgen) den Leser doch auch fordert.

Eine besonders interessante Gedankenlinie sei indes noch hervorgehoben, nämlich jene, dass Klopstock zwar auf Verknappung (brevitas) zielt, aber zugleich in seinem Werk Variation bietet, die copia, also Breite, erfordert. Statt der unvermittelten Vision ist die Textarbeit das, worum es gehe, so legt Haverkamp nahe. Er beschreibt denn auch „Lesen als kompensatorischen Heilsweg“.

Ist das Buch abschließend zu empfehlen? Das ist es, aber nur demjenigen, der Haverkamp zu folgen bereit ist, also womöglich dem, der diese Rezension bis zu Ende liest, die Rezension ist womöglich als Prüfstein zu verstehen. Sie musste angesichts der überbordenden Ideen, die eher brillant als didaktisch durchdacht präsentiert werden, dem Parforceritt ja wenigstens teils folgen, musste also wohl ähnlich unübersichtlich geraten. Wer dies dem Rezensenten nachsieht, der wird wie dieser an dem Buch vermutlich dennoch seine helle Freude haben.

Anmerkung: Teile dieses Textes erscheinen im Rahmen des Artikels zum Forschungsstand des Klopstock-Handbuchs (Metzler).

Titelbild

Anselm Haverkamp: Klopstock/Milton – Teleskopie der Moderne. Eine Transversale der europäischen Literatur.
(Abhandlungen zur Literaturwissenschaft).
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018.
396 Seiten, 49,99 EUR.
ISBN-13: 9783476046833

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