Zwischen Pop und Punk – zwischen Philosophie und Revolution

Helene Hegemann schreibt in „Patti Smith“ zwiegespalten über das singuläre Talent gleich zweier Ausnahmekünstler*innen

Von Leoni BuchnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leoni Buchner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine „radikal subjektive Liebeserklärungen an die Musik“. Nicht weniger ist Ziel der Musikbibliothek des KiWi Verlags. Und um nicht mit falschen Erwartungen an das hier besprochene Buch von Helene Hegemann heranzutreten, ist es zuallererst wohl wichtig sich mit dem Prinzip dieser Musikbibliothek, zumindest grob, auszukennen:

In der seit 2019 existierende Reihe bittet der KiWi Verlag meist (mehr oder weniger) berühmte Autor*innen, über Begegnungen mit Musik zu schreiben, die ihr Leben geprägt haben. Idee dahinter sei, die Liebe zur Musik und die zur Literatur zu verbinden. Dabei nähern sich die Autor*innen den Musiker*innen nicht etwa in Form einer Biographie o. ä., sondern legen den Fokus auf den subjektiven Einfluss, den diese Musik auf sie und andere hat oder hatte. 

Das 2021 erschienene Buch Patti Smith ist nun also der 18. Band dieser Reihe. 

Bei unserer ersten Begegnung hielt ich Patti Smith für eine Obdachlose, wahrscheinlich ging ihr das mit mir nicht anders.

So startet das 99 Seiten lange Buch (oder eher Büchlein), welches sich im Kern um genau diese Begegnung dreht. Und wer mit einem Werk über die Person Patti Smith an sich gerechnet hat, wird bereits zu Beginn enttäuscht. Es handelt, eben frei nach dem Prinzip der Musikbibliothek, von der Bedeutung, welche Smith für Autorin Helene Hegemann hat. Dabei lernt man oberflächlich also erstmal mehr über die Autorin selbst als über alle anderen. 

Hegemann, die bereits mit 18 Jahren ihren ersten, hochgelobten und in mittlerweile 15 Sprachen übersetzten Roman veröffentlichte, erzählt in Patti Smith einen Teil ihrer eigenen Lebensgeschichte. Sie wächst bei ihrer alkoholabhängigen Mutter auf, deren Tod sowohl den Wendepunk in Hegemanns Leben darstellt als auch den Grundstein für das Buch legen soll. Denn nach einer Kindheit am Existenzminimum wird sie mit 13 Jahren, nach dem Tod der Mutter, von ihrem Vater mit nach Wien genommen. Sonst wäre sie Patti Smith wohl nie begegnet.

An dieser Stelle sollte wohl auf den Untertitel des Buches verwiesen werden: Helene Hegemann über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition. Hegemanns Buch hätte genauso gut den Titel „Christoph Schlingensief“ tragen können.

… diese Geschichte […] von der ich noch immer nicht genau weiß, wer ihre Hauptfigur ist.

Ihr Vater arbeitete als einer der engsten Vertrauten des Theaterregisseurs und Aktionskünstlers Christoph Schlingensief. Und so wurde auch Hegemann direkt nach der Ankunft bei ihm nicht nur in ein neues Leben, sondern auch in die Welt des Theaters geworfen. Ausgehend von der Arbeit Schlingensiefs und seiner Freundschaft zu Patti Smith beginnt sie sich dieser zu nähern. 

Zu Beginn begegnet Hegemann der Musikerin eher kritisch, fast trotzig. Als müsse sie erst einmal klar machen, dass hier kein Fangirl über ihre Ikone schreibt. Sie beschwert sich über Smiths Präsenz in den sozialen Medien, kritisiert das Bild von ihr als „Hohepriesterin der Geschlechterindifferenz“ und will klar machen, dass sie nicht an ein romantisiertes Bild der 60er Jahre glaubt. Sie empfinde Patti Smith gegenüber eine konfuse Genervtheit, was sie die Leser*innen spüren lässt. 

Sie differenziert sich dabei bewusst von dem, wofür Patti Smith gemeingültig zu stehen scheint. Mit all dem versucht Hegemann ihren Leser*innen klarzumachen, dass es einen tieferen Grund gibt, warum sie über Patti Smith schreibt. Ihre Haltung Smith gegenüber soll den nötigen Abstand schaffen, den die Autorin braucht, um sich der Künstlerin in den Punkten zu nähern, die für Hegemann selbst von Bedeutung sind – man erinnere sich hier kurz an den vorgegebenen Rahmen des KiWi Verlags. Denn tatsächlich: beim Weiterlesen wird man damit überrascht, dass es diese „tieferen Gründe“ tatsächlich gibt.    

Hegemann schreibt über ein „singuläres Talent“, das Patti Smith habe: die Art, wie sie sich ihren Texten, ihren Gedankengängen und damit den Menschen, über die sie singt, nähere. Die übersinnliche Arte, mit der sie performe. Und genau in diesen Punkten begegnet Hegemann Patti Smith. Sie betrachtet sie aus dem Gefühl heraus, das ihre Musik und ihre Präsenz den Hörer*innen und Zuschauer*innen gibt.

Die größten Stars der deutschsprachigen Theaterlandschaft und die größten Philosophen und die japanischen Studenten und Patti Smith wurden alle exakt, wirklich exakt so behandelt wie ich.

Hegemann gelingt es sich in ihrer Darstellung neben Patti Smith zu stellen. Nicht auf eine überhebliche Weise, sie will damit nicht suggerieren, ihr ebenbürtig zu sein. Sie stellt sich auf einer bildlichen, menschlichen Ebene neben sie. Sie definiert Patti Smith dabei durch beider Beziehung zu Schlingensief. Betrachtet die Welt von Patti Smith durch ihre Haltung gegenüber Schlingensief und seinem Schaffen. Und durch die Darstellung der Freundschaft zwischen den beiden äußerst speziellen und innovativen Figuren der internationalen Kulturszene schafft sie einen neuen Blickwinkel auf Patti Smith, welcher sie im Endeffekt viel universeller beschreibt, als man es im ersten Moment glauben mag. Dabei gelingt es ihr, Patti Smith nahbar zu machen und sie gleichzeitig in ihrer Spiritualität und Einzigartigkeit über andere zu stellen.

Fast radikal beschreibt Hegemann, vor allem anhand der sie scheinbar so stark geprägten Arbeit Schlingensiefs, über ihre Auffassung von dem, was Kunst ausmache – „Das war keine Pädagogik, das war Kunst.“
Eine spezielle Haltung sozialen Strukturen und Hierarchien gegenüber verbindet Smith und Schlingensief und auf diese beruft sich Hegemann immer wieder intensiv. Ein Weltbild, welches diese Strukturen einreißen und eine Solidarität schaffen könne. Die Stärken von Hegemanns Buch sind darin zu finden, dass sie es schafft, den Geist dieser spirituellen und innovativen Form der Kunst einzufangen und zu vermitteln.

Man kann Musik nicht hören, wenn man liest, wie sie jemand beschreibt, dadurch wird sie nicht in etwas anderes verwandelt, sondern zerstört

Wer eine radikal subjektive Liebeserklärung an die Musik gesucht hat, wird hier trotzdem nicht fündig. Doch vielleicht ist das auch ganz gut so. Die Frage, ob es wirklich so spannend wäre, 99 Seiten über den subjektiven Buchgeschmack einer Autor*innen zu lesen, soll an dieser Stelle unbeantwortet bleiben.

Also, eine subjektive Liebeserklärung an Patti Smiths Musik sucht man vergebens. Was man aber findet, ist die Schilderung eines subjektiven Eindrucks von Patti Smith, welcher sich über das Buch in ein objektives, universelles Gefühl verwandelt und, nach einem etwas holprigen Anfang, die einzigartige Künstlerin einzigartig portraitiert. Und obwohl Patti Smiths Musik nicht sonderlich große Beachtung geschenkt wird, und man sich als Leser*in wohl mehr als einmal fragt, um wen dieses Buch sich eigentlich dreht, wird Musik (und Theater!) hier zu einem Ort sozialer und irgendwo auch spiritueller Auseinandersetzung gemacht.

Titelbild

Helene Hegemann: Patti Smith. Helene Hegemann über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
112 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783462053951

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