Das Haus im Schatten

Monika Helfer erinnert in „Die Bagage“ die Geschichte ihrer Familie

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im österreichischen Literaturfrühling des Corona-Jahres haben zwei Debütromane für einiges Aufsehen gesorgt. Es handelt sich dabei um zwei Heimatromane. Da ist Helena Adlers Die Infantin trägt den Scheitel links, in dem sprachgewaltig und einfallsreich die Zu- und Umstände eines Heranwachsen in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts im ländlichen Salzburg ausgemalt werden, und Dominik Bartas Kurzroman Vom Land über ein österreichisches Dorf geprägt von Landflucht und den Dämonen der Provinz. Die Dorfgeschichte ist hier eine Möglichkeit, sich der eigenen Herkunft zu vergewissern und das zu benennen, was als falsch und unzureichend angesehen wird.

Ganz anders verhält es sich bei der dritten Neuerscheinung, die hier zu besprechen ist. Monika Helfer (geb. 1947) ist eine arrivierte Autorin. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht und war mit Schau mich an, wen ich mit dir rede 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Auch Die Bagage ist eine Art Heimatroman oder Dorfgeschichte. Es ist ein sehr persönliches Buch, versucht die Autorin darin nichts weniger als die eigene Herkunft zu klären. Vor allem ist es die Geschichte von Josef und Maria Moosbrugger aus einem einschichtigen Bergdorf am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Weltkriege. Die Familie wird von den Dorfbewohnern die „Bagage“ genannt. Wir kennen das Wort als Synonym für Gesindel, Pack. Es ist ein Beleg dafür, wie Sprache zur sozialen Ausgrenzung benutzt wird. Bagage „stand damals noch lange Zeit für ‚das Aufgeladene‘, weil der Vater und der Großvater von Josef Träger gewesen waren, das waren die, die niemandem gehörten, die kein festes Dach über den Kopf hatten, die von einem Hof zum anderen zogen und um Arbeit fragten und im Sommer übermannshohe Heuballen in die Scheunen der Bauern trugen, das war der unterste aller Berufe, unter dem des Knechtes.“

Solche Herkunft ohne übertriebenes Pathos und mit dem richtigen Einfühlungsvermögen zu erzählen, ist große Kunst. Monika Helfer gelingt das auf beeindruckende Weise. Ihre Quellen sind Befragungen innerhalb der Familie, die Interpretation von Fotos, die Auseinandersetzung mit den Fallstricken der Erinnerung. Der kurze Roman, der die dramatische Geschichte von Menschen in grausamen Zeiten sichtbar macht, vermeidet, wo das möglich ist, eindeutige Urteile, stellt Leserinnen und Lesern Leiden und Freuden einfacher Menschen recht nüchtern vor. Dabei ist das Erzählte immer als Fiktion der Ich-Erzählerin deutlich: „Ich nehme jetzt etwas vorweg, was in der Geschichte erst viel später drankommt, aber ich halte es nicht aus, es hinauszuschieben.“

Helfer skizziert also das Leben der Großeltern und deren Kindern, ihrer Mutter, den Onkeln und Tanten. Wie traumatisierte Kinder ihre Erlebnisse in Zeichnungen darstellen, beginnt der Roman mit der Anleitung zu einem Bild: „male ein kleines Haus, einen Bach, ein Stück unterhalb des Hauses, einen Brunnen, aber male keine Sonne, das Haus liegt nämlich im Schatten!“ Menschen gehen ja mit ihrer Herkunft recht unterschiedlich um. Manche schämen sich ihrer, andere schwindeln, wieder andere verschweigen sie einfach. Helfer hebt ihre Herkunft aus dem Schatten. Sie ist stolz auf diese Familie. Und sie stellt die wichtige Frage: „Wann und wo endet die Bagage? Gehöre ich noch dazu? Gehören meine Kinder noch dazu? Gehört mein Mann dazu?“ Sie kennt die Gefahren einer Identifikation mit einer Armut, die zur Fiktion geworden ist.

Der schmale Band, auch diese Kürze verbindet ihn mit den eingangs erwähnten Debütromanen, enthält auch autobiografische Abschnitte. Dazu gehört etwa ein Besuch der Siebzehnjährigen bei Karl Jaspers. Ich hätte gerne mehr davon gelesen.

Titelbild

Monika Helfer: Die Bagage.
Hanser Berlin, Berlin 2020.
160 Seiten, 19 EUR.
ISBN-13: 9783446265622

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch