Impact der Moderne

Hallgrímur Helgasons neuer Roman „60 Kilo Sonnenschein“ bietet eine ethnologische Reise ins vormoderne Island

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hallgrímur Helgasons neuer Roman 60 Kilo Sonnenschein beginnt mit einem leeren, unbeschriebenen Blatt weißen Papiers. Nur wird dieses Papier von Helgasons ironisch distanziertem Erzähler vor dem Leser flach ausgebreitet und verwandelt sich ‒ oh Wunder des Erzählens ‒ in einen zugeschneiten Fjord, von dem der hohe Neuschnee alle Spuren der Menschen getilgt hat; in extremer Weise, wie der Leser nach einigen Schlenkern dieses von Nebengeschichten so prallen Romans bald erfährt  denn Isländer wissen eine gute Saga zu schätzen. So geraten Helgasons Gestalten zu epischer Größe, auch wenn ihr Handlungsraum auf einen einzigen Fjord begrenzt wird.

Eilífur Guðmundsson ist es, der als Erster seine Spur auf dem weißen Blatt des Fjordes ziehen darf und den Leser mitnimmt, um „die Verzweiflung anderer im Schein der Nachttischlampe zu betrachten“. Die Distanz zwischen Leser und Figur dürfte selten größer sein, als Helgason sie uns hier unter die Nase reibt. Auf der einen Seite wir Industriemenschen im digitalen Zeitalter und derzeit durch den Griff einer unberechenbaren Pandemie auf unser häusliches Dasein zurückgeworfen, mit allem Komfort, der uns zu Gebote steht, das Gewicht des dicken Buches zufrieden abwägend, während wir die ersten Seiten umblättern, und auf der anderen Seite ‒ oder ganz und gar in dieser Seite ‒ Eilífur, der unterwegs war, um für die Weihnachtsgrütze drei Kilo Weizen zu besorgen, und von einem Schneesturm überrascht wurde. Nun steht er auf der weißen Fläche seines Fjords und kann sein Haus nicht mehr finden. Dieses Haus, das er sich durch lange mühsame Jahre als Knecht erarbeitet hat. Das Haus mit seiner geliebten Frau, seiner einzigen Kuh und seinen beiden Kindern. Eine massive Schneeschicht hat alles zugedeckt und erst ein unterirdisches Muhen lotst den Verzweifelten unter Tage.

Als er den Zugang zu seiner Hütte freigeschaufelt hat, findet er dort seine Kuh und seinen zweijährigen Sohn Gestur, der zufrieden am Euter nuckelt ‒ Tochter und Frau sind unter dem einstürzenden Stall begraben worden. Eilífur kann Kind und Kuh retten, steht aber vor den Trümmern seiner Existenz – zumal er dem Kaufmann Kopp für die drei Kilo Weizen noch neunundneunzig Forellen schuldet, die er nun niemals wird bezahlen können. Nachdem er sich zusätzlich durch die Beerdigung von Frau und Tochter entehrt fühlt, nicht nur, weil die auf Schlitten gebundenen Särge sich zwischenzeitlich selbstständig gemacht und den halben Fjord durchquert haben, sondern auch durch den sturzbetrunkenen Pfarrer, der bei der Beerdigung tödlich verunglückt – ausgerechnet durch einen Sturz in das offene Grab (es bleibt unaufgeklärt, ob ihn nicht jemand gestoßen hat und damit ein Mord geschehen ist), scheint nur noch die Auswanderung nach Amerika eine Lösung zu bieten. Doch hier endet der bis dahin relativ kontinuierliche Handlungsfaden. Eilífur wird vom Kaufmann Kopp vor der Ausreise gestellt und muss seine Schuld auf einem Haifänger abarbeiten ‒ bei einem schweren Sturm kommt er auf See um.

Gestur ‒ was offensichtlich „Gast“ bedeutet ‒ ist nun am ehesten die Figur, die während ihres Heranwachsens in die unterschiedlichen Welten des Dorfes Segulfjördur einführt. Weitere Figuren wären etwa der Kaufmann Kopp, der halb freiwillig den kleinen Gestur adoptiert, da er seinen Vater aufs Eismeer geschickt hat, Lási, der Pflegevater Gesturs, der einspringt, als die Frau des Kaufmanns Kopp den Jungen als vermeintliches Kuckuckskind aus der Kaufmannsfamilie und damit aus der Welt der Holzhäuser verjagt, der neue Pfarrer, der anfängt ‒ in der Manier Johann Gottfried Herders ‒ isländische Volkslieder zu sammeln. Diese Volkslieder weisen auf einen ganz anderen Protagonisten, der die Handlung eigentlich dominiert: Den Fjord und seine Bewohner, die ihre Spuren in ihm gezogen haben und ihn doch immer wieder neu und weiß anderen Geschichten überlassen (so wie jeder Roman den nächsten antizipiert). Mit Lawinen, Heringsschwärmen, welche die ganze Bucht verstopfen, Haien und Stürmen macht sich der Fjord mit seiner ungestümen Natur immer wieder bemerkbar.

Helgason gelingt es, auf wenigen Seiten die existentiellsten Begebenheiten aus dem Leben der Isländer zu präsentieren, während der Erzählfluss gleichzeitig langsam scheint, wie ein wandernder Gletscher. Während die Figuren, durch lange Polarnächte schweigsam geworden, wenige Worte machen und umso öfter nach einem Ausdruck für die Gedanken und Gefühle suchen, die in ihrem Inneren toben, erschafft Helgason gleichzeitig mit sichtlich ethnologisch-historischer Freude die Welt eines Islands vor der Moderne, die sich überwiegend in kleinen stickigen Grassodenhäusern abspielt, während die großartige Landschaft des Fjordes alles andere als bloße Kulisse ist und jeder romantischen Sehnsucht nach vormodernen Verhältnissen eine deutliche Absage erteilt.

Ob nun eine junge Mutter sich durch Nacht, Wellengang und Eiseskälte kämpfen muss, mit einem Säugling auf dem Rücken und einem Kleinkind an der Hand, nur um Feuer bei den Nachbarn zu holen, damit sie den heimischen Herd wieder entzünden kann und die anderen Kinder nicht erfrieren, oder ein Rabe in einem unaufmerksamen Moment einem Säugling ein Auge aushackt (eine fast groteske Spiegelung des einäugigen Rabengottes Odin) – stets wird deutlich, wie nah das Leben in solch unwirtlicher Landschaft an den Tod gebaut ist (ganz wortwörtlich, gehen doch ganze Gehöfte mit Lawinen zu Tal, wie ja auch der Roman mit einer solchen Naturgewalt beginnt). Das Fabelhafte oder Mythische streift der Roman dabei nicht nur, wenn gleich die ganze Kirche durch einen Sturm vom Fundament gerissen wird und als wortwörtliches Kirchenschiff den Fjord durchmisst, um im offenen Meer zu havarieren.

Während so neben den direkten Hinweisen des Übersetzers Karl-Ludwig Wetzig immer wieder der Verdacht aufkommt, dass Helgason hier augenzwinkernd auf die Heldensagas verweist, sind andererseits Verweise auf die moderne Literatur deutlich genug ‒ ist doch die Ausreise nach Amerika etwa in Halldór Laxness‘ Roman Das wiedergefundene Paradies erzählt. Diese Verweise wirken oftmals geradezu liebevoll und zeigen auf, dass Literaturgeschichte, welche die Lebensbedingungen der Menschen zu wenig berücksichtigt, an der Sache vorbeigehen muss. Denn wenngleich der oft distanziert-erklärende Sprachgestus des Erzählers zuerst den Eindruck erweckt, als wende er sich vornehmlich an ein ausländisches Publikum, machen gerade die vielfältigen intertextuellen Verweise auf die isländische Literatur deutlich, dass hier durchaus auch eine Selbstverortung erprobt wird. Die Moderne zieht ein paarmal in Form großer Dampfschiffe am Fjord vorbei und fasst am Ende doch in Form einer norwegischen Heringsfabrik Fuß, welche offenbar schon bald das Subsistenzsystem des Fjordes über den Haufen werfen wird. Marginal erscheinende Erfindungen wie das Streichholz, ein Produkt, das geradezu exemplarisch für die Massenproduktion der Industrialisierung stehen kann, befreien fortan von lebensgefährlichen Wanderungen durch die Nacht am Meer entlang(der Stoff, aus dem die Sagas sind).

Helgason macht selten und subtil, dafür mit umso größerer Irritationswirkung auf die Distanz aufmerksam, die uns von dem Leben der Grassodenhäuser trennt; etwa, wenn er nebenbei die Größe eines Buches (welch ein Schatz!) mit einem iPhone vergleicht. 60 Kilo Sonnenschein birgt eine lesenswerte Zeitreise in eine fremde Welt, die kein Leben im Einklang mit der Natur zeigt, sondern eines, das der Natur täglich abgerungen werden muss (wie im Vergleich die Siedlungen der Wikinger auf Grönland zeigen, die nicht überdauert haben). Was beim Lesen auch deutlich wird – und das ist eine globale, wenn auch ungleichzeitige Erfahrung: der Impact der Moderne hat die traditionellen Gesellschaften in ihren Grundfesten erschüttert; zum Guten und zum Schlechten.

Titelbild

Halgrímur Helgason: 60 Kilo Sonnenschein.
Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Tropen Verlag, Stuttgart 2020.
570 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608504514

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