Weiblichkeit an der Leerstelle

Ina Henkes Dissertation untersucht Inszenierungen, Konstruktionen und Subversionen von Weiblichkeit bei E. T. A. Hoffmann

Von Stefanie JungesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Junges

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer an die Frauenfiguren in E.T.A. Hoffmanns Novellen und Märchen denkt, kann zu dem Schluss kommen, dass die Darstellung der weiblichen Figuren eher flach und stereotyp bleibt. Häufig sind sie einfältig wie Candida, oberflächlich wie Veronika oder – wortwörtlich – ‚leer‘ und schablonenhaft wie Olimpia. Selten nur finden sich profilierte weibliche Figuren, die sich nicht in Abhängigkeit zu den männlichen Protagonisten verstehen.

Ina Henke setzt an diesem Punkt an und untersucht in ihrer Dissertation Inszenierungen, Konstruktionen und Subversionen von Weiblichkeit in Hoffmanns Erzählungen Rat KrespelDas Gelübde und Das öde Haus aus dem Blickwinkel der Intersektionalitätsforschung bzw. der Gender Studies. Henke grenzt somit ihren Untersuchungsschwerpunkt auf die Weiblichkeitsdarstellungen ein, die durch „Ausgrenzungskategorien wie Alter, Klasse, Ethnizität u.a.“ entstehen.

Dieser Ansatz bietet sich geradezu an: einerseits, weil Hoffmanns Frauenfiguren bisher nicht aus intersektionaler Perspektive untersucht wurden (und der Forschungsstand zum Öden Haus noch Lücken aufweist), und andererseits, da nicht nur Bilder von Weiblichkeit an einer umrissenen Leerstelle entstehen, die nicht zwangsläufig benennt, was das Weibliche ist, sondern in der sich „Weiblichkeitsimagines“ durch das, was sie gerade nicht sind oder sein sollen, konstituieren. Denn für Hoffmanns Texte bzw. romantische Literatur im Allgemeinen lässt sich häufig ein Kreisen um Leerstellen als sinnkonstituierendes Element ausmachen.

Ausgehend von der Feststellung stereotyper Darstellung von Frauenfiguren in Erzählungen Hoffmanns stellt Henke die Frage, inwiefern die – in der Forschung ihrer Meinung nach noch nachwirkende – identifikatorische Lesart (bspw. Johannes Kreisler als Hoffmanns literarisches Alter Ego) die literarische Konstruktion von Weiblichkeit beeinflusst. Dabei interessiert sie sich primär für zwei wesentliche Aspekte: Henke möchte im Rückgriff auf Methoden der Gender und Queer Studies in einer intersektionalen Perspektive herausarbeiten, inwiefern Weiblichkeit in Hoffmanns Erzählungen durch Aus- und Abgrenzung mithilfe anderer Kategorien (Sexualität, Körper, Ethnizität u.a.) konstruiert wird. Ferner soll dies sowohl unter Berücksichtigung narrativer Spezifika Hoffmann’scher Texte (unzuverlässiger und metafiktionaler Erzähler) als auch durch einen Abgleich zeitgenössischer anthropologischer Muster von Weiblichkeit um 1800 geschehen. Mit Rückgriff auf Judith Butler wählt sie das „Queer Reading“ in Abgleich mit erzähltheoretischen, historisch-anthropologischen und feministischen Standpunkten aus der literaturwissenschaftlichen Forschung als Hauptmethode für ihre Dissertation. 

Henke betrachtet auf die Einleitung folgend im zweiten Kapitel ihrer Dissertation zum Geschlechterdiskurs um 1800 zweierlei: Einerseits untersucht sie das Paradigma der Intersektionalität in seiner Nutzbarmachung für literaturwissenschaftliche Analysen, andererseits zeigt sie prägnant auf, wie der historisch-anthropologische Kontext um 1800 Weiblichkeitsbilder definiert und proklamiert. Sie hebt dabei auch die deutlichen Ambivalenzen und Paradoxien dieser Skizzierungen hervor. Die Definition der Rolle der Frau steht dabei in jeder der von ihr betrachteten Kategorien in Abhängigkeit zum Mann („polare Geschlechter“). Die für ihre Betrachtungen relevanten anthropologischen Aspekte werden präzise herausgearbeitet und in einem zweiten Schritt mit der literarischen Darstellung von Weiblichkeit sowie ihrer immanenten Subversion konterkariert. Dabei identifiziert sie verschiedene weibliche Stereotype – wie zum Beispiel die „Femme fragile“, Hexen, Bürgerliche, Schöne usw. – und zeigt auf, wie diese Ausgrenzungskategorien besonders durch ihre Interdependenz die Rolle der Frau um 1800 aushandeln. Die Verknüpfung und Kopplung dieser einzelnen Kategorien umreißen somit das Bild von Weiblichkeit in Abhängigkeit und Abgrenzung zum Männlichkeits-Stereotyp. Henke bietet den Leser:innen hier mit ihrer konzisen Darstellung hinreichende Einblicke in anthropologische Fragestellungen, um eine Einordnung der nachfolgenden Analysen in die Debatte zu ermöglichen.

Das dritte Kapitel führt anhand der drei ausgewählten Erzählungen vor Augen, inwiefern die im zweiten Kapitel angeführten Differenzkategorien zur Definition von Weiblichkeit am literarischen Exempel skizziert werden können. Angela und Antonie (Rat Krespel), Angelika und Edmonde/Edwine (Das öde Haus) sowie Hermenegilda/Cölestina (Das Gelübde) verdeutlichen, so arbeitet Henke konzise heraus, wie weibliche Figuren in Hoffmanns Texten immer, wenn sie aus dem stereotypen Rollenbild ausbrechen (wollen), durch Pathologisierungs- und Dämonisierungsversuche unter männliche Kontrolle gestellt werden oder aber mit dem Tod bezahlen, um die „bestehende Geschlechterordnung“ nicht zu gefährden und aufrecht zu erhalten. 

Henke gelingt es in diesem textanalytischen dritten Kapitel, die im zweiten Kapitel aufgestellte Kategorisierung des Weiblichen auf die Figuren der Hoffmann’schen Texte zu übertragen, obgleich für das ein oder andere Argument zur Unterstützung eine explizite Skizzierung am Text wünschenswert gewesen wäre. Dabei stellt sie insbesondere heraus, inwiefern die weiblichen Figuren sich durch männliche Zuschreibungen als dämonisch, (geistes-)krank, fragil oder hysterisch charakterisieren lassen und kontextualisiert ihre Ergebnisse vor der Folie der anthropologischen Diskurse um 1800. Es zeigt sich schon hier in Grundzügen, inwiefern diese stereotypen Zuschreibungen von Weiblichkeit auch immer wieder in Frage gestellt werden: „Das Verhalten der Frauenfiguren in den drei untersuchten Novellen entspricht dem evozierten Klischee also nicht immer, sodass dessen Konstruktcharakter bereits auf der Ebene der histoire – zumindest in Ansätzen – für die Leser*innen sichtbar wird.“

Dabei hat jedoch die Strukturentscheidung Henkes zur Folge, dass die bereits im zweiten Kapitel für die folgende Analyse ausdifferenzierten Ausgrenzungskategorien – sich durchaus individuell am Text orientierend – wiederholt werden. Die Frauenpaare aus Hoffmanns Rat Krespel und Das öde Haus weisen deutliche Parallelen in der Darstellung auf: Die Inszenierung von Weiblichkeit lässt sich für diese beiden Erzählungen unter Einbezug der von Henke vorgestellten Ausgrenzungskategorien letztlich auf den Typus der „Femme fatale“ oder der „Femme fragile“ bzw. auf die entsexualisierte „Femme enfante“ herunterbrechen. Lediglich Hermenegilda aus Das Gelübde bricht – möglicherweise, weil sie die einzige Frauenfigur in der Erzählung ist – aus dieser Dichotomie aus und oszilliert zwischen „Femme fatale“ und „Femme fragile“. 

Den Andeutungen des dritten Kapitels bezüglich der subversiven Inszenierung von Weiblichkeitsimagines folgt im vierten und umfangreichsten Kapitel eine erzähltechnische Analyse. Henke betrachtet, wie diese Bilder konstruiert und im gleichen Schritt wieder „dekonstruiert“ werden und stellt die Frage, durch wen: Durch „die Figuren, die Erzähler oder den Autor selbst“? Zu Beginn des vierten Kapitels wird ein solides Fundament für die folgende Analyse narrativer Textstrategien zur Inszenierung und Subversion von Weiblichkeitsentwürfen gebaut. Anschließend legt Henke dar, inwiefern die „multiperspektivische Auffächerung des Geschehens“ in den Erzählungen die Erzählstrategie des Textes – und damit zwangsläufig die Inszenierung und performative Konstruktion von Weiblichkeitsbildern – unterminiert. Sie untersucht anhand des unzuverlässigen Erzählens, wie die von den männlichen Erzählerfiguren konstruierten Weiblichkeitsdarstellungen durch die eigene Unzuverlässigkeit ebenfalls in Zweifel gezogen und damit subvertiert werden. Dabei differenziert sie auktoriale und personale heterodiegetische Erzählinstanzen von homodiegetischen Figurenerzählern. So weise bspw. Theodors Verstummen in Das öde Haus, als er das junge Mädchen erblickt, ihn einerseits als Erzähler aus, gleichzeitig als einen, der „gerade in einer Krise des Erzählens“ stecke, „die auch auf seine sprachliche Erzeugung von Frauenfiguren“ übergreife: „Die Frau als Mythos, die weibliche Natur als sprachlich erzeugte Pseudo-Natur – diese Deutung wird den Leser*innen des Öden Hauses immer wieder angetragen.“ 

Mit Rückbezug auf Blödorn und Butler analysiert sie, inwiefern sich die stereotypen Bilder von Weiblichkeit, die dem polaren Geschlechtermodell um 1800 mal mehr, mal weniger entsprechen, im performativen Akt des Sprechens der männlichen Erzähler konstruieren. Henkes Analyse der Erzählsituation(en) – Rat Krespel wird von Henke auch im narratologischen Kontext der Serapions-Brüder analysiert – zeichnet sich dabei durch einen scharfen Blick aus, der die Texte stringent unter den gewählten Gesichtspunkten in den Blick nimmt. Dabei stellt sich heraus, dass die dem polaren Modell entsprechende Dichotomie von Öffentlichkeit und Privatleben, der Männlichkeit bzw. Weiblichkeit vornehmlich zugeordnet sind, sich auch in Hoffmann’schen Texten widerspiegelt: „Der Text legt hier mit einem erzähltechnischen Kniff also offen, dass es letztlich männliche Diskurse sind […], die die weibliche Wirklichkeit um 1800 überformen und Frauen so aus der Sphäre der Öffentlichkeit verbannen“. Dennoch reproduzieren die Novellen das gängige Weiblichkeitsbild nicht einfach. Durch das unzuverlässige Erzählen, das die Rezipient:innen stets im Ungewissen über die Faktizität und Authentizität der berichteten Ereignisse lässt, würden, so resümiert Henke, diese Stereotype subvertiert.

Die Stärken von Henkes Dissertation liegen einerseits in der Aufbereitung der anthropologischen Positionen, auf deren Basis erst die Differenzierung und Analyse der Ausgrenzungskategorien erfolgen kann, sowie andererseits in der erzähltheoretischen Reflexion und narratologischen Analyse im vierten Kapitel. Sie untersucht aus der Perspektive der Queer und Gender Studies, was Hoffmann’sches (und romantisches) Erzählen im Wesentlichen charakterisiert: das Oszillieren zwischen Fiktion und Faktizität (vgl. das Kapitel Ärztliche (Ohn-)Macht). Die Untersuchung der unzuverlässigen und metafiktionalen Erzählsituationen tangiert diesen Aspekt jedoch oftmals marginal; Henke verliert dabei ihr Erkenntnisinteresse nicht aus dem Blick, dennoch wäre es an der ein oder anderen Stelle wünschenswert gewesen, einige dieser Aspekte durch vertiefende Zitate und längere Unterkapitel produktiv weiterzudenken. 

Angesichts der aktuellen Forschungslage zum Werk Hoffmanns ist jedoch die Entscheidung, sich strikt auf die dem Forschungsansatz zuträglichen Aspekte zu fokussieren, nachvollziehbar. Die Darstellung der verschiedenen Weiblichkeitsentwürfe ist – trotz einiger, auf die Struktur der Arbeit zurückzuführender Redundanzen – ebenso wie die Verschränkung mit Hoffmann’schen Erzählcharakteristika ein Gewinn für die literaturwissenschaftlichen Gender Studies.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ina Henke: Weiblichkeitsentwürfe bei E.T.A. Hoffmann. »Rat Krespel«, »Das öde Haus« und »Das Gelübde« im Kontext intersektionaler Narratologie.
De Gruyter, Berlin 2020.
296 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110674613

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