Gedichte einer fast vergessenen Dadaeuse

„Band 3 der Kommentierten Studienausgabe“ von Nicola Behrmann und Simone Sumpf umfasst das vollständige lyrische Werk von Emmy Hennings

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Emmy Hennings (1885–1948) war Schriftstellerin, Schauspielerin, Kabarettistin und gleichzeitig umschwärmte Muse der Dadaisten und Expressionisten, obwohl sie in ihren Werken keine rebellische Lyrikerin sondern eher eine leidenschaftliche Neuromantikerin war. In erster Linie war sie aber eine Überlebenskünstlerin sowie eine der interessantesten und schillerndsten Frauenfiguren der Moderne.

Als Tochter eines Werftarbeiters und einer Wäscherin verdiente Hennings nach der Volksschule ihren Lebensunterhalt zunächst als Dienstmädchen, Kellnerin und Waschfrau, schlug sich aber auch als Hausiererin und Gelegenheitsprostituierte durch. Mit 18 Jahren heiratete sie und schloss sich mit ihrem Mann einer Wanderbühne an. Nach der Scheidung 1904 tingelte sie als Vortragskünstlerin alleine durch Deutschland. Es folgten Jahre wechselnder Aufenthalte und Auftritte in Berlin (im Café Größenwahn) und München (in der Schwabinger Künstlerkneipe Simplicissimus). Erich Mühsam und Johannes R. Becher waren in dieser Zeit ihre Liebhaber. Letzterer widmete ihr glühende Verse und teilte mit ihr seine Morphiumsucht. Wegen angeblicher Gesetzesübertretungen wurde sie sogar mehrfach inhaftiert.

In Zürich gründete Hennings 1916 mit Hugo Ball, Jean Arp, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck und anderen das Cabaret Voltaire, die Keimzelle der Dada-Bewegung. Hier war die „feurig-wilde Chansonnière“ der Mittelpunkt der abendlichen Veranstaltungen. In der Literaturszene der Weimarer Republik fand sie jedoch keinen festen Platz. 1920 heirateten Hennings und Ball. Nach dem Tod ihres Mannes, im September 1927, führte Emmy Ball-Hennings ein rastloses Leben, meist geprägt von Armut und Krankheit. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1948 machte sie sich als Verwalterin und Herausgeberin der Werke von Hugo Ball verdient und verfasste zwei autobiographische Schriften sowie Erinnerungsbände über ihn und sich.

Vor vier Jahren begann der Wallstein Verlag mit der Kommentierten Studienausgabe der Werke und Briefe der Schriftstellerin Emmy Hennings. Band 1 (2016) vereinigte den 1919 erschienenen Roman Gefängnis (1919) mit den zwei zu Lebzeiten unveröffentlichten Gefängnis-Romanen Das graue Haus und Das Haus im Schatten, in denen sie ihre traumatischen Lebenserfahrungen verarbeitete. In Band 2 (2017) wurden ihr Roman Das Brandmal (1920) und ihre Erzählung Das ewige Lied (1923) präsentiert. Nach einer mehrjährigen Pause liegt nun mit Band 3 das gesamte lyrische Werk von Emmy Hennings vor. Es wird hier erstmals vollständig publiziert – sowohl ihre zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte, sofern sie nachweisbar waren (insgesamt 153 Titel) als auch die unveröffentlichten aus dem Nachlass.

Die Textgrundlage der bereits veröffentlichten Gedichte bilden Hennings drei Lyrikbände Die letzte Freude, Helle Nacht und Der Kranz. Ihr erster Gedichtband erschien 1913 im Verlag von Kurt Wolff als fünfter Band der Reihe Der jüngste Tag. Den seltsamen Titel Die letzte Freude wählte Hennings, weil sie annahm, dass sich so ein schönes Ereignis für sie nicht wiederholen würde. Der Band enthält elf Gedichte, die zumeist Ende 1912 entstanden, als sie Engagements als Vortragssängerin in Danzig und Kattowitz hatte. Der expressionistischen Wortkunst der männlichen Kollegen versuchte sie, eine eher mädchenhafte Stimme entgegenzusetzen.

An die Scheiben schlägt der Regen.
Eine Blume leuchtet rot.
Kühle Luft weht mir entgegen.
Wach ich, oder bin ich tot?

Eine Welt liegt weit, ganz weit,
Eine Uhr schlägt langsam vier.
Und ich weiß von keiner Zeit,
In die Ärme fall ich dir …

Der Gedichtband Helle Nacht erschien im Mai 1922 im Verlag Erich Reuß in Berlin und enthielt 47 Gedichte. Der Band erlebte nur eine Erstauflage und wird in der Wallstein-Ausgabe erstmals vollständig wieder abgedruckt. Die Gedichte sind voll ergreifender Innigkeit, selbstverloren und teilweise mit einer religiösen Tendenz (Marienlieder), die an Novalis erinnert – wie in Traum II:

Ich bin so vielfach in den Nächten.
Ich steige aus den dunklen Schächten.
Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein.

So selbstverloren in dem Grunde,
Nachtwache ich, bin Traumesrunde
Und Wunder aus dem Heiligenschrein.

Und öffnen sich mir alle Pforten,
Bin ich nicht da, bin ich nicht dorten?
Bin ich entstiegen einem Märchenbuch?

Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten.
Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten,
Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch …

Nach einer längeren Pause von fast zwei Jahrzehnten veröffentlichte Hennings 1939 ihren dritten und letzten Gedichtband Der Kranz mit 29 Gedichten. Er enthielt neben einigen früheren Gedichten auch Verse, die ihre Trauer über den Verlust ihres Gefährten Hugo Ball ausdrücken (aus Die Witwe 2):

Ein Schleier nur ist dies Gedicht,
Verhüllend zart den Purpur einer Wunde.
Das Weinen schweigt im bleichen Munde.
Ein sanftes Grün nur gibt noch Kunde
Vom schon vergessenen Tageslicht.

Neben den drei Gedichtbänden versammelt die Ausgabe zahlreiche Gedichte aus deutschen und Schweizer Tageszeitungen. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, war Hennings häufig auf solche Publikationen angewiesen. Darüber hinaus befanden sich in ihrem Nachlass eine Reihe kleinerer, von Hennings zusammengestellte und von Hand gebundene Gedichtsammlungen – z.B. den geplanten Band Die mystische Rose, den Hennings 1941 für den katholischen Herder-Verlag zusammengestellt hatte, der aber nie erschien, weil die Autorin kurz vor der Drucklegung das Manuskript zurückzog, da sie von der Qualität der Gedichte nicht mehr überzeugt war. Nicht mit aufgenommen wurden kurze lyrische Verse und Fragmente, die Hennings meist in Briefe einstreute.

Im umfangreichen Kommentarteil (über 200 Seiten) werden Angaben zur Entstehung, Datierung und Wirkungsgeschichte der einzelnen Gedichte angeführt. Der an das Variantenverzeichnis anschließende Stellenkommentar gibt Aufschluss über Zitate, Anspielungen, erwähnte Personen, Orte und Sachanmerkungen. In ihrem Nachwort „Wenn es verweht, macht es nichts.“ Emmy Hennings lyrisches Werk gibt die Herausgeberin Nicola Behrmann einen kompakten Einblick in Leben und Schaffen der Schriftstellerin. Dabei beleuchtet sie die stilistische Annäherung Hennings an andere LyrikerInnen wie Rainer Maria Rilke, Georg Heym oder Else Lasker-Schüler, während sie den Einfluss von Hugo Ball und Hermann Hesse, die beide Hennings persönlich am nächsten standen, auf ihre lyrische Produktion als gering einschätzt. Neben den biografischen Hintergründen stellt Behrmann auch Bezüge zur modernen Lyrik her und betrachtet die zeitgenössische Rezeption.

Komplettiert wird die Wallstein-Ausgabe durch einige historische Abbildungen, ein Literaturverzeichnis und ein Verzeichnis, das die mehr als 900 Varianten und Lesarten der Gedichte auflistet. Die Studienausgabe – besonders der vorliegende Gedichtband – ist der ernsthafte und gelungene Versuch, Emmy Hennings der Vergessenheit zu entreißen und ihr wieder ein Publikum zu verschaffen. Damit wird auch ein Stück selektiver Literaturgeschichtsschreibung korrigiert, denn Kindlers Neues Literaturlexikon verschweigt ihren Namen (zumindest meine 21bändige Studienausgabe aus dem Jahr 1988). Allein unter Hugo Ball (Literatur zum Autor) wird ihre Biografie Ruf und Echo. Mein Leben mit Hugo Ball (1953) angeführt. Dabei gebührt Emmy Hennings ein Platz in der Literaturgeschichte, den ihr väterlicher Freund und Förderer Hermann Hesse bereits zu ihren Lebzeiten eingefordert hatte.

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Emmy Hennings: Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
512 Seiten , 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835335035

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