Letzte Gedanken, letzte Worte
Marianna Kijanowska erinnert in „Babyn Jar. Stimmen“ an das Massaker an Jüdinnen und Juden in Kyjiw 1941
Von Daniel Henseler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Geschichtswissenschaft darf sich ihre Quellen nicht einfach ausdenken. Die Literatur hingegen hat mehr Spielraum: Sie kann ‚wahrhaftig‘ sein, auch wenn sie nicht ‚wahr‘ ist. Die ukrainische Lyrikerin Marianna Kijanowska (*1973) hat in ihrem Gedichtband Babyn Jar. Stimmen letzte Gedanken und Worte von jüdischen Menschen erfunden, die auf dem Weg in den Tod sind. Ein solches Vorhaben ist ein großes Wagnis, das die Autorin allerdings mit Bravour meistert.
Die historischen Geschehnisse, die am Anfang von Kijanowskas Band stehen, wurden in der Sowjetunion lange Zeit verschwiegen. Spätestens seit dem Ende des Kommunismus aber sind sie einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein gelangt. Das gesteigerte Interesse für die Ukraine seit 2022 mag diese Entwicklung noch zusätzlich befördert haben: In Babyn Jar, einer Schlucht in Kyjiw, wurden Ende September 1941 innerhalb von knapp zwei Tagen über 33.000 Jüdinnen und Juden von Einsatzgruppen der deutschen Sicherheitspolizei und des SD, aber auch von einheimischen Milizionären ermordet.
Marianna Kijanowska hat diesen Menschen nun ein literarisches Denkmal in Form eines preisgekrönten Gedichtbands gewidmet, der im Original 2017 erschienen ist. Darin porträtiert sie in 67 Gedichten Kinder, Frauen und Männer, die sich bereits im Abgrund befinden, die dorthin unterwegs sind oder aber kurz davor stehen, abgeholt zu werden. Es handelt sich hierbei um fiktive Stimmen, um erdachte Gedanken und Selbstgespräche angesichts des baldigen Todes. Diese drehen sich um alles Mögliche: Die Menschen nehmen ihre Umgebung, die Häuser, Straßen, Bäume geschärft wahr. Sie blicken zurück auf ihr Leben und fragen sich, ob sich dieses gelohnt hat und was davon übrigbleiben wird. Sie hadern mit Gott – oder auch nicht. Auffallend oft erinnern sie sich an Gegenstände und Besitztümer wie Kleider, Schuhe oder Möbel. Dann wiederum richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf den eigenen oder einen fremden Körper, auf ein Gesicht, auf Blut, das sie sehen. Die Personen haben meistens einen Namen. Wenn nicht, dann kann – zumindest im ukrainischen Original – ihr Geschlecht erschlossen werden. Das alles wirkt gleichermaßen sinnlich wie materiell, konzentriert und dicht, unmissverständlich und plastisch, so dass die Porträtierten in den Texten eine außerordentliche Präsenz erlangen: Es entsteht der Eindruck, man könne sie geradezu anfassen. Kurz vor dem Tod sind sie lebendig, wie sie es vielleicht zuvor niemals waren. Es ist unter anderem eben diese Eigenschaft, welche Kijanowskas Gedichte zu einem bemerkenswerten, gültigen Ausdruck des Massakers von 1941 macht.
Wie unmittelbar wir als Lesende in die Gedankenwelt der Betroffenen hineingezogen werden und wie nahe wir letzteren kommen, zeigt beispielweise folgendes Gedicht:
ich hätte auf dieser straße sterben wollen oder auf der ums eck
aber der wachmann erlaubt es nicht du brauchst nicht zu bitten
im koffer sind keine richtigen sachen ich habe für die reise gepackt
wie man eben packt für eine reise ans ende der tage
nur schlüssel und briefe fotos eine brosche und geld
kein richtiges geld bloß ein paar scheine
wir ziehen durch den sommerstaub wie durch asche
umgehen krater körper und spuren von unrat
sie kamen ins haus befahlen alles wertvolle zu nehmen
ich nahm eine warme decke etwas brot etwas wasser
und der esesmann pockennarbig warf einen verächtlichen blick ins ärmliche zimmer
das plötzlich ins nichts sank für immer
und jetzt gehe ich für immer verstehe und sehe
uns ausgeliefert im schillern eines grellen lichts
ich hätte auf dieser straße sterben wollen und weine deshalb nicht
und den koffer stelle ich auf dem pflaster ab und ich trage nur meinen namen
ich bin rachil
Diese und die anderen Stimmen von Babyn Jar sind also allesamt erfunden. Manche Kritikerin, mancher Kritiker hat dies Kijanowska zum Vorwurf gemacht: „So etwas darf man nicht!“ Doch Kijanowska fantasiert nicht einfach vor sich her. Sie hat sich mit den damaligen Ereignissen intensiv befasst, hat sie studiert und ausgewertet. Ihr ‚Erfinden‘ bewegt sich daher lediglich im Rahmen des historischen Wissens, über das man verfügt (oder verfügen könnte, wenn man wollte): Die Stimmen sind mithin wahrhaftig – sie entsprechen der Wahrheit, der Wirklichkeit. Kijanowskas Gedichtband kann in dieser Hinsicht auch als eine bewusste Polemik mit einer offiziellen Erinnerungspolitik gelesen werden, welche den Massenmord von Babyn Jar lange Zeit nicht als solchen benennen bzw. seiner überhaupt nicht gedenken wollte. „Dann muss sich halt die Literatur der Sache annehmen“, mag sich die Autorin gesagt haben.
Die einzelnen Gedichte sind im Original in der Regel gereimt und in einem klassischen Versmaß gehalten. Kijanowska arbeitet überdies intensiv mit klanglichen Assonanzen, mit Wiederholungen von Vokalen und Konsonanten. Die Übersetzerin Claudia Dathe konnte diese Eigenschaften in der deutschen Version nicht ohne weiteres beibehalten, wie sie in ihrem Nachwort erklärt. Das ist verständlich und nachvollziehbar. Gleichwohl verfügen aber die ukrainischen Gedichte gegenüber den Übertragungen über eine deutlich höhere formale Strenge, über einen Grad der Organisation, der viel vom Charakter dieser Texte ausmacht.
Wirklich bedauerlich ist aber etwas anderes: In den Übersetzungen ist mancher Vers (zwangsläufig) länger geraten als im Original und beansprucht daher im Druck zusätzlichen Raum auf der jeweils nächsten Zeile. Der Verlag wollte jedoch offenbar, dass die ukrainischen Gedichte auf der Gegenseite jeweils optisch am genau gleichen Ort der Seite enden wie die deutschen. Das hat aber dazu geführt, dass man in den Originalgedichten hie und da eine Leerzeile setzen musste. Als Resultat sieht es nun freilich so aus, als seien die ukrainischen Gedichte in Strophen aufgeteilt. Das ist jedoch nicht der Fall. Ein solcher Eingriff in die ursprüngliche Gestalt der ukrainischen Versionen scheint sehr problematisch. Denn die Gedichte leben gerade von dem ununterbrochenen Bewusstseinsstrom. Zudem hat sich auch der eine oder andere Druckfehler in die ukrainischen Gedichte geschlichen. Diese Bemerkungen sollen aber die große Leistung der Übersetzerin nicht schmälern. Es kommt überdies selten genug vor, dass ein Gedichtband, der in einer osteuropäischen Sprache geschrieben wurde, als Ganzes auf Deutsch zu lesen ist!
Babyn Jar. Stimmen bietet keine einfache Lektüre. Aber es ist ein herausragender Band. Und ein notwendiger. Nicht nur, weil er an ein brutales Massaker in der europäischen Geschichte erinnert. Er schafft auch etwas, was gegenwärtig in der Lyrik eher selten ist: Er verharrt nicht in der Selbstbefragung eines lyrischen Ich, die sich vorwiegend im Kreis dreht. Sondern er fühlt sich in fremde Erfahrungen ein und vermag es, diese in gültiger Weise festzuhalten.
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