Flucht auf die Insel

Mit ihrem Band „Und alles ist hier fremd“ hat Doris Hermanns ein ebenso informatives wie wichtiges Buch über deutschsprachige Autorinnen im britischen Exil vorgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem Buch Und alles ist hier fremd fächert Doris Hermanns die Schicksale zahlreicher deutschsprachiger Schriftstellerinnen auf, die in Großbritannien Zuflucht vor dem sich zunächst in Deutschland austobenden und dann in Europa immer weiter umsichgreifenden Terror der Nazi-Diktatur suchten. Unter ihnen einige lesbische Frauen und zahlreiche Jüdinnen. Vermutlich waren von allen in Großbritannien aufgenommen Exilantinnen nicht weniger als 90% „jüdischer Herkunft“.

Am Ende des Buches gibt eine von der Autorin zusammengestellte „Liste“ nicht nur Auskunft über die Anzahl der Exilantinnen, sondern informiert über ihre Lebensdaten, darüber, wann sie ins britische Exil gingen und welcher Art ihre schriftstellerische Tätigkeit war. Zu einigen von ihnen konnte die Autorin „nur wenige bis gar keine“ darüberhinausgehenden Informationen ausfindig machen. Hermanns nennt Charlotte Wolff und Annelise Abels. Im Laufe ihrer Recherchen stellte sie zudem fest, „dass zu den österreichischen Schriftstellerinnen sehr viel mehr geforscht worden ist als zu den deutschen“.

Manche der Schriftstellerinnen waren schon unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung aus Deutschland geflohen, andere erst später. Manche hatten bereits eine längere Odyssee durch verschiedene Länder hinter sich, bevor sie in Großbritannien ankamen. Andere flohen direkt auf die Insel. Unter ihnen allen waren sowohl ältere Damen wie auch junge Mädchen im Kindesalter, die erst später zu Literatinnen heranwachsen sollten. Judith Kerr war eines von ihnen. Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland verarbeitete sie ihre Exilzeit in Romanen. Einer von ihnen wurde unter dem Titel Als Hitler das rosa Kaninchen stahl erfolgreich verfilmt. Manche der Kinder erlebten das Exil als Abenteuer, andere wurden von  „Pflegefamilien“ ausgebeutet.

Hermanns beschreibt die Lebens- und Exilgeschichte der geflohenen Schriftstellerinnen nicht entlang ihrer jeweiligen Biographie. Vielmehr hat sie ihr Buch in thematisch orientierte Kapitel gegliedert, in denen sie etwa den Spuren der exilierten Mädchen nachgeht, die britischen Internierungslager behandelt, die Möglichkeiten, im britischen Exil zu publizieren, eruiert oder von einer „legendären Rettungsaktion“ berichtet.

Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung war Großbritannien für die meisten Geflohenen nicht der bevorzugte Zufluchtsort. Da zur Zeit der Weimarer Republik Französisch die erste in den Schulen gelehrte Fremdsprache war, zogen sie das Nachbarland vor. Zudem bot es sich eher an, weil es eine gemeinsame Grenze mit dem Deutschen Reich hatte. Fast alle, die nach Großbritannien flohen, mussten sich die Landessprache vor Ort aneignen.

In einer vom German Jewish Aid Comittee and the Board of Deputies herausgegebenen Broschüre wird gleich als erstes darauf hingewiesen, dass Geflüchtete es als ihre Ehrenpflicht ansehen sollten, die Sprache zu erlernen.

Die Ankommenden wurden von den britischen Behörden in „drei Kategorien“ unterteilt: jene die als „Sicherheitsrisiken“ galten und interniert wurden. Sodann solche, die zwar ebenfalls als Sicherheitsrisiko betrachtet wurden, „sich aber noch in Freiheit befanden“. Die meisten jedoch galten als „der britischen Sache ‚freundlich gesinnt’“ und fielen somit in die dritte Kategorie.

Zu den Internierten zählte etwa die sozialistische Literatin Hermynia Zur Mühlen, in der Hermanns „eine der produktivsten Autorinnen“ des Londoner Exils vermutet. Wie Zur Mühlen in einem Brief klagte, war sie zusammen mit siebzig anderen ExilantInnen in einem „völlig verwahrlosten Haus“ untergebracht, in dem „ein Kommandoton [herrschte], dass man ebenso gut in Deutschland hätte bleiben können“. Aufgrund eines ärztlichen Attestes wurde sie allerdings bereits nach einem Monat entlassen.

Nicht in allen Internierungslagern herrschten derart schlechte Zustände. In den auf der Isle of Man eingerichteten „entwickelte sich“ sogar „ein lebendiges kulturelles Leben mit Schulungskursen, Sprachunterricht, Diskussionsrunden und wissenschaftlichen Vorträgen“. Die Internierten konnten zudem „eigene Zeitungen“ erstellen, Ausstellungen organisieren, Kabarettabende veranstalten und Theaterstücke sowie Konzerte aufführen.

Weil sie schon in kurzer Zeit heillos überfüllt waren, wurden die britischen Internierungslager überdies bald aufgelöst und die ExilantInnen „der britischen Bevölkerung gleichgestellt“.

Nach den deutschen Pogromen und Mordnächten im Herbst 1938 änderte Großbritannien seine bislang eher restriktive „Aufnahmepolitik“ und das Land wurde zu einem „bevorzugten Zufluchtsort“. Insbesondere in London ging es nun „toleranter“ zu, so dass die Stadt zum „Zentrum für alle Aktivitäten der ExilantInnen“ avancierte.

Um die Publikationsmöglichkeiten der exilierten SchriftstellerInnen war es allerdings nicht besonders gut bestellt. Zwar hatten „diejenigen, die bereits früh im Exil lebten, anfangs noch die Möglichkeit“, „sowohl in Deutschland“ wie auch „in anderen Ländern, die später von den Nationalsozialisten besetzt wurden, zu veröffentlichen“. Doch schon bald waren ihnen nicht nur der deutsche Markt und derjenige der inzwischen besetzten Länder verschlossen. „Die meisten ExilantInnen“ bekamen zudem „zu hören“, dass es in Großbritannien „zu viele EmigrantenschriftstellerInnen“ gäbe. Sie hatten es daher nicht leicht, ihre Werke im Land ihrer Zuflucht zur Publikation zu bringen.

Zu den ersten Schriftstellerinnen, die nach Großbritannien emigrierten, zählte Ruth Feiner, die

bereits kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung nach Großbritannien [floh], nachdem sie als Jüdin einen SS-Mann wegen seiner antisemitischen Äußerungen in der Öffentlichkeit geschlagen hatte.

Auch die Lyrikerin, Kulturtheoretikerin und „deutsch-jüdische Religionsphilosophin“ Margarete Susman fand in Großbritannien Asyl. Ebenso Henriette Hardenberg, die wie die gleichfalls im britischen Exil lebende Mela Hartwig zu den „wenigen expressionistischen Dichterinnen“ zählte. Gabriele Tergit hatte in der Weimarer Republik hingegen nicht zuletzt mit gesellschaftskritischen Gerichtsreportagen reüssiert. Irmgart Litten wiederum „hielt sich in erster Linie nicht für eine Schriftstellerin, sondern für eine ‚ausgesprochen aktive Kämpferin gegen Hitler, deren Waffe unter anderem auch die Feder ist’“. Joe Lederer schrieb ihre Bücher indessen „ohne politischen Anspruch“. Sie zählte zu den zahlreichen Exilantinnen, die sich als „Dienstmädchen“ verdingten, da dies quasi die einzige legale Möglichkeit war, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu bestreiten. Ihr Dienst begann morgens um halb sieben und endete nicht vor zehn Uhr abends. Oft aber dauerte er länger. So etwa, wenn Gäste da waren.

Hermanns berichtet jedoch nicht nur von den Lebensumständen, Arbeitsbedingungen und Publikationsmöglichkeiten der Schriftstellerinnen im britischen Exil, wobei sie „wo immer möglich […] die Autorinnen gerne als Zeitzeuginnen selbst sprechen [lässt]“. Gelegentlich fasst sie auch den Inhalt einzelner Werke kurz zusammen, wie etwa im Falle von Ruth Feiners Roman Drei Tassen Kaffee.

Anzumerken ist noch die traurige Tatsache, dass nicht alle exilierten Schriftstellerinnen mit ihren Schicksalsgenossinnen solidarisch waren. So beklagte sich die österreichische Dichterin und Journalistin Elisabeth Janstein der (vom Rezensenten nicht überprüften) Darstellung Hermanns zufolge in ihrem Pariser Exil über den „gewaltigen Zustrom von Flüchtlingen aus Deutschland“ und votierte gegen die „Zulassung deutscher JournalistInnen in die Fédération International des Journalistes“.

Am Ende des informativen Bandes äußert Hermanns den Wunsch,

dass weitere Bücher der Schriftstellerinnen, die im britischen Exil waren, auch im deutschsprachigen Raum wieder oder erstmals aufgelegt werden – und natürlich gelesen werden. Und dass noch viele Biografien geschrieben werden – von Exilantinnen damals wie heute.

Titelbild

Doris Hermanns: ‚Und alles ist hier fremd‘. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil.
AvivA Verlag, Berlin 2022.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783949302053

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