Männer und Mädchen vor Gericht

Gabriele Tergits Reportagen in „Vom Frühling und von der Einsamkeit“ berichten von Menschenschicksalen in der Weimarer Republik

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gabriele Tergit ist eine der wenigen Autorinnen der Weimarer Republik, die nie ganz in Vergessenheit gerieten. Dabei veröffentlichte sie vor der Machtergreifung der Nazis nur einen einzigen Roman: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Zwar wurde ihr Debüt in der Bundesrepublik erst 1977 erneut aufgelegt. Doch erwies sich der Roman sodann als derart erfolgreich, dass er bis heute eine ganze Reihe weiterer Auflagen und Ausgaben erreichte. 1983 wurden zudem die Erinnerungen der Autorin publiziert.

Dass Tergit – abgesehen von der Zeit der Nazi-Tyrannei – stets im Bewusstsein des lesenden Publikums verankert blieb, verdankt sich allerdings weniger ihrem ersten Roman oder ihren Memoiren als viel mehr ihrem 1951, also fast zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Weimarer Republik erschienenen Opus Magnum. Die Rede ist von ihrem opulenten Roman Effingers, der bis heute ebenfalls mehrere – wenngleich teilweise gekürzte – Auflagen erreichte und 2019 noch einmal besonderes Aufsehen in den Feuilletons erregte, wobei er durchaus nicht ohne Grund mit Thomas Manns Buddenbrooks verglichen wurde.

Dabei war Tergit gar nicht in erster Linie eine Romancière, sondern eine Gerichtsreporterin, die zwischen 1924 und 1933 für verschiedene Berliner Zeitungen – unter ihnen das Berliner Tageblatt, der Berliner Börsen Courier und die Weltbühne – eine schier unglaubliche Anzahl von Reportagen über Prozesse schrieb, die im Berliner „Kriminalgericht“ verhandelt wurden. Nicole Henneberg hat aus ihnen eine repräsentative „Auswahl“ der „psychologisch, soziologisch und historisch interessantesten und besten Schilderungen“ getroffen und sie mit einem Nachwort versehen herausgegeben.

Zwar berichten Tergits Reportagen von reale Fällen aus einer deutschen Metropole der Weimarer Republik, doch fühlt man sich gelegentlich an die fiktiven Prozesse in der bayerischen Provinz zur Zeit des Prinzregenten Luitpold erinnert, die Anfang der 1970er Jahre vom ZDF im Rahmen der Serie Königlich-Bayerisches Amtsgericht ausgestrahlt wurden. Denn auch vor dem in der Moabiter Turmstraße gelegenen Kriminalgericht wurde oft krimineller Kleinkram verhandelt, bei dem ein Delinquent auch schon einmal „bestenfalls 75 Pfennige im Monat erschwindelt“ hatte. Ein anderer erhielt nicht weniger als ein halbes Jahr Haft, weil er in Treppenhäusern „Lampen samt Fassung“ herausgeschraubt hatte. Nicht wenige der Angeklagten wurden aus schierer Not kriminell, manche aus Ahnungslosigkeit und Naivität. Andere Fälle glänzen noch heute durch ihre besondere Skurrilität, wie etwa der einer Verhandlung, welche die dunklen Zusammenhänge zwischen einem „hypnotisierte[n] Mädchen[.]“, einer „verschwundene[n] Uhr“ und einem „große[n] Unbekannten“ zu erhellen versuchte. 

Gelegentlich greift die Reporterin auch schon mal zu bagatellisierenden Formulierungen, denen zufolge ein Angeklagter Steine „sammelte“, „um sie auf das Haupt seines Nebenbuhlers zu versammeln“. Es sind also keineswegs alle verhandelten Fälle harmlos. So berichtet Tergit schon auf den ersten Seiten über einen Mordprozess aus dem Jahr 1925. Manchmal standen ganze Menschenschicksale vor Gericht, wie das einer Frau, die aus einer Notlage heraus abtrieb. „[E]in Fall von tausend Fällen“, kommentiert Tergit. Gegen keinen anderen Paragraphen bezieht die Gerichtsreporterin so nachdrücklich und so oft Stellung wie gegen das Abtreibungsverbot im § 218. „Aber aller Jammer und alle Empörung über diesen Paragraphen scheinen nichts zu nützen“, konstatiert sie irgendwann resigniert. Entrüstet ist die Gerichtsreporterin auch über die „ungeheure“ Begründung, mit der das Gericht eine Mutter wegen Kuppelei verurteilte und argumentierte, „dass die Angeklagte das Bewusstsein und Wissen gehabt hat, dass ihre Tochter auf bösem Wege war. Wenn sie aber dies Bewusstsein hatte, so genügt dies allein zu einer Bestrafung“.

Im Unterschied zu heutigen GerichtsreporterInnen nennt Tergit KlägerInnen und Beklagte sowie ZeugInnen immer wieder mit vollem Namen. Anders als RichterInnen, StaatsanwältInnen und VerteidigerInnen, bei denen es sich vermutlich ausnahmslos um Männer gehandelt haben dürfte, beschreibt Tergit auch gerne deren äußere Erscheinung. „Ein junger Galizianer“ etwa sei „klein schnoddrig und tüchtig“. Eine „53-jährige Lehrerin“, die angeklagt ist, sich „an einem 13-jährigen Schüler vergangen“ zu haben, beschreibt Tergit als „ganz magere, kleine Person mit einem spinösen Vogelgesicht, die typische alte Jungfer der Witzblätter“. Manche von Tergits Personenbeschreibung wie etwa die einer Klägerin in einem Beleidigungsfall, die von Tergit als „fett mit einem Mopsgesicht“ charakterisiert wird, dürfte heutzutage womöglich gleich eine weitere Beleidigungsklage nach sich ziehen. Dass die Reporterin zudem nicht frei von rassistischen Vorurteilen war, zeigt ihre Beschreibung einer anderen Angeklagten: „eine Zigeunerin […] altes Weib, Hexe aus dem Märchen, Skelett das Gesicht, nur tief in den Höhlen schwarze Augen“. Ein dreißigjähriger Algerier wiederum sei „klein und dick, seit Generationen gewohnt, viel süßen Kaffee zu schlürfen, dabei die Eleganz des Südländers, die Bräune des Mittelmeerkindes, die brennenden Wüstenaugen, aber nicht deren Trauer, sondern eher etwas fröhlich, zwinkernd, händlerisches“. Seine „Braut“ hingegen beschreibt sie als „groß und strahlend hellblond“ und merkt an: ‚Rassentheorie‘, denkt man einen Augenblick“.

Doch nicht nur Angeklagte und ZeugInnen beobachtet und beurteilt Tergit. Sie stellt auch schon einmal Betrachtungen über die „Zuhörer[.] und Wachmeister[.]“ an. So teilt sie ihrem Publikum etwa mit, dass man bei manchen „junge[n] Paaren in Windjacken […] immer erst einen Augenblick hinsehen muss, wer der männliche Teil ist, weil die Mädchen eine jünglingshafte Kühnheit im Gesicht und Haar haben und ihre Tracht sich nicht von der des Begleiters unterscheidet. Nur ist eins beim Alten geblieben. Der junge Mann erklärt die Vorgänge dem Mädchen, nicht umgekehrt“. Überhaupt werden Frauen von Tergit meistens als „Mädchen“ apostrophiert. Sogar einige „richtige süße Mädel“ treten vor Gericht auf, und das schon auf der ersten Seite. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Nicole Henneberg die 21-jährige Tergit im Nachwort ebenfalls ein „junges Mädchen“ nennt.

Männer hingegen sind bei Tergit stets Männer. Das geht soweit, dass einmal sogar von „blutjungen Männern und […] älteren Mädchen“ die Rede ist. Denn immerhin kann der Reporterin zufolge schon ein gerade einmal 14-jähriger „Knabe“ einen Sachverhalt „männlich[.]“ schildern. Ganz anders, wenn Frauen vor Gericht auftreten. Der noch heute bekannte Sexologe Magnus Hirschfeld bescheinigt als Sachverständiger einer Prozessbeteiligten etwa, dass ihre „Zurechnungsfähigkeit infolge schwerer Hysterie und klimakterischer Seelenstörung zweifellos herabgesetzt“ sei, und ein anderer „Sachverständiger“ erklärt in einem Prozess angesichts der Aussage einer Angeklagten, die von Tergit als „schönhäutiges altes Mädchen“ beschrieben wird, es liege „im Wesen der weiblichen Psyche, sich nicht präzise ausdrücken zu können“. Tergit bedient ebenfalls immer wieder einmal misogyne Klischees und berichtet etwa, zwischen mehreren angeklagten Frauen habe sich wegen politischer Meinungsverschiedenheiten „eine regelrechte Prügelei oder vielmehr Kratzerei [entsponnen]“.

Die desaströse politische Entwicklung der Weimarer Republik mit ihren zunehmend gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten schlug sich natürlich auch in Prozessen vor dem Moabiter Gericht nieder. Schrieb Tergit noch 1927 angesichts einer Auseinandersetzung zwischen „zwei Rotfrontkämpfer[n]“, einem „alte[n] SPD-Mann“ und einem „Nationalsozialisten“, bei der es zu „Messerstiche[n]“ kam, noch sehr verharmlosend von „unsere[r] schlagfreudige[n] Jugend“, so wurde ihr der Ernst der sich zuspitzenden Lage zunehmend bewusst. „Noch vor wenigen Jahren fiel es auf, als in einem Prozess ein nationalsozialistischer Schlächter sein Schlächterbeil ernsthaft sein Schanzzeug nannte“, schrieb sie Ende 1930, „[a]ber inzwischen hat sich die Psychose ausgebreitet, und die Schlägereien in den Straßen Berlins werden mit allem Glanz und Schimmer von Kriegshandlungen umgeben“. Zudem muss sie feststellen, dass sich „zweierlei Recht“ entwickelt hat, ein mildes für „Nationalsozialisten als Staatsbejaher“, ein hartes für „Kommunisten als Staatsverneiner“. So wird „[e]ine der scheußlichsten Taten, die je in Moabit zur Verhandlung standen“, nur mit fünf Jahren Gefängnis bestraft. Nazis hatten „Jagd“ auf einen „sehr jüdisch aussehende[n] Zeitungshändler“ gemacht und ihn, als sie seiner habhaft wurden „erst erstochen, und totwund, noch einmal erschlagen“.

Tergit beschließt ihre Reportagen nicht selten mit reflektierenden Überlegungen, die mal gesellschaftskritisch, mal moralisch, mal misanthropisch ausfallen und etwa besagen, „dass nur die Dilettanten vor Gericht stehen, die Meister auf goldenen Thronen sitzen“ oder dass „Gerichtsverhandlungen nicht das Schlimmste“ seien, „sondern der Mitmensch“.

Das Gerichtsgebäude in Moabit aber galt Tergit nicht zu Unrecht als „Quelle für die Erkenntnis der Zeit“, zeigten seine Prozesse die Weimarer Gesellschaft auf ihrem Weg in den Nationalsozialismus doch in einer Art Brennglas. Aber nicht nur die Verhandlungen können heute als Spiegel der Zeit gelten, sondern nicht weniger die Art und Weise, wie Tergit von ihnen berichtet.

Titelbild

Gabriele Tergit: Vom Frühling und von der Einsamkeit. Reportagen aus den Gerichten.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
368 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783895614941

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