Erinnerungen für die Zukunft

Florence Hervés Band „Mit Mut und List“ stellt 75 Frauen aus dem europäischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alljährlich wird hierzulande an die zumeist national-konservativen Offiziere und Adligen um Claus Schenk Graf von Stauffenberg erinnert, die für ihr am 20. Juli 1944 gescheitertes Attentat auf Hitler hingerichtet wurden. Ähnlich unvergessen sind nur noch die Angehörigen der Weißen Rose, die ihre Flugblattaktionen ebenfalls mit dem Leben bezahlen mussten. Weitere WiderstandskämpferInnen dürften den meisten Deutschen nicht einfallen, würde man sie nach den Namen und den Schicksalen der Menschen fragen, die mutig genug waren, gegen die Naziherrschaft aufzustehen. Seit Steven Spielbergs Film Schindlers Liste vielleicht noch Oskar Schindler, der Hunderten von JüdInnen das Leben rettete, und in den östlichen Landesteilen eventuell der kommunistische Schreiner und Hitler-Attentäter Georg Elser. Dabei war der Widerstand gegen das Naziregime weit zahlreicher und weit vielfältiger; und zwar nicht nur in Deutschland, sondern nicht weniger in den anderen europäischen Ländern, seien sie nun von Nazideutschland besetzt gewesen oder nicht.

Tatsächlich waren es „Millionen Menschen in Europa, die die Gräuel nicht hingenommen, sondern sich gewehrt haben“, wie Florence Hervé im Vorwort zu dem von ihr herausgegebenen Band Mit Mut und List betont. Unter ihnen „Hunderttausende Frauen“. Aus dem Leben von 75 „dieser couragierten Frauen“ aus nicht weniger als zwanzig Ländern „erzähl[en]“ Hervé und ihren 23 Mitautorinnen.

Beginnend mit Deutschland hat die Herausgeberin die Artikel nach Ländern gegliedert, wobei zunächst die von den Nazis besetzten, sodann die nicht besetzten folgen. Innerhalb dieser Zweiteilung sind die Länder alphabetisch angeordnet. Ebenso die Artikel über die Widerstandskämpferinnen in den jeweiligen Länder-Abschnitten. Jedem ist ein kurzer einleitender Text über den Widerstand in dem betreffenden Land vorangestellt.

All dies lässt ein Lexikon oder ein Nachschlagewerk vermuten. Doch sind die jeweils einer der Widerstandskämpferinnen gewidmeten Texte nicht etwa lexikalisch-schematisch aufgebaut und entsprechend formalisiert. Auch sind sie nicht, wie es einem Lexikon gemäß wäre, nüchtern und neutral verfasst, sondern stellen sich eindeutig und gelegentlich emphatisch auf die Seite der Widerständlerinnen. Wenn Hervé also davon spricht, dass sie und ihre Autorinnen aus dem Leben der Frauen „erzählen“, so ist es genau das, was sie tun, ohne dass darunter der informative Gehalt ihrer Artikel leiden würde. Das macht die einzelnen Texte gut lesbar und das Buch als Ganzes zu mehr als einem bloßen Nachschlagewerk. Zumal die Herausgeberin ihren Autorinnen offenbar bei der formalen und inhaltlichen Gestaltung ihrer jeweiligen Beiträge freie Hand gelassen hat. Eines aber haben die Einträge gemeinsam. An ihrem Ende stehen ein oder mehrere Literaturhinweise zur weiteren Lektüre. Zudem sind den Artikeln oft Fotos beigegeben. Zwar handelt es sich zumeist um individuelle Porträts, doch gelegentlich sind zwei oder mehr Personen auf ihnen zu sehen. Darum wäre es wünschenswert gewesen, wenn ihnen Bildunterschriften beigefügt worden wären, damit sich die Widerstandskämpferin auf dem Bild identifizieren lässt.

„Anspruch auf Repräsentativität“ kann der Band natürlich nicht erheben, doch machen seine Beiträge die Vielfalt der „patriotische[n], religiöse[n], weltanschauliche[n]“ oder „humanistische[n]“ Beweggründe und die Mannigfaltigkeit der Aktivitäten der Widerstandskämpferinnen deutlich. Ihre „Aktionsformen reichten“ alleine in Deutschland „vom Abhören von Auslandssendern, Herstellen und Verteilen von illegalen Flugblättern und Schriften, Abhalten illegaler Versammlungen, Kurier- und Verbindungsdienste, Sammeln von Geld für in Not geratene Familien bis hin zur Sabotage“. Außerdem haben die Frauen dazu beigetragen, verfolgte Menschen, namentlich JüdInnen, zu verstecken oder ihnen die Flucht zu ermöglichen.

Die Artikel über die Frauen umfassen meist zwei bis fünf Seiten und informieren nicht nur über ihre Aktivitäten als Widerstandskämpferin zur Zeit des Nationalsozialismus, sondern werfen einen Blick auf ihr gesamtes Leben. Dass dabei auch schon einmal eher nebensächliche Episoden erwähnt werden, trägt dazu bei, die Frauen als je individuelle Persönlichkeiten lebendig werden zu lassen. Viele von ihnen überlebten die Naziherrschaft nicht. Sei es, dass sie im Kampf umkamen, ermordet wurden oder im KZ starben. Die Deutsche Helga Baum etwa war gerade einmal 21 Jahre alt, als sie 1942 nach der Verbüßung einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe für ihre „Kurierdienste im deutsch-tschechischen Grenzgebiet“ in der „Tötungsanstalt Bernburg“ ermordet wurde. Die getöteten Frauen gewidmeten Artikel informieren dankenswerterweise auch darüber, ob und wie die Nachwelt ihrer gedenkt.

Die meisten der vorgestellten Widerständlerinnen stammen aus Deutschland (neun), Frankreich (elf), Italien (zehn) und der Sowjetunion (neun). Zwar wird Sophie Scholl nicht genannt, doch wurden durchaus einige hierzulande noch immer einigermaßen bekannte Frauen aufgenommen. Wichtiger aber ist es, dass auch weithin vergessenen Widerstandskämpferinnen vorgestellt werden. So werden aus der Roten Kapelle nicht etwa Libertas Schulze-Boysen oder Mildred Harnack gewürdigt, sondern die weit unbekanntere Ursula Goetze. Auch Ilse Stöbe, die „schillerndste Figur unter den Frauen des deutschen antifaschistischen Widerstands“, dürfte kaum bekannt sein. Sie war für den sowjetischen Militärgeheimdienst Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU) tätig, von dem sie „in mehreren europäischen Ländern eingesetzt“ wurde, wie Christina Fischer informiert. Ende 1942 wurde Stöbe in Plötzensee hingerichtet.

Bei allem Verständnis dafür, dass Hervé auswählen musste, welche Frauen sie und ihre Autorinnen in Erinnerungen rufen, gibt es doch die eine oder andere bedauerliche Absenz. So wird weder Gertrud Koch noch eine der anderen jungen Frauen, die den Edelweißpiraten angehörten, genannt. Frauen, die literarischen Widerstand leisteten, fehlen ganz. So etwa Irmgard Keun, deren zur Zeit der Naziherrschaft im Ausland erschienene Werke dezidiert antifaschistisch und dabei authentischer aus Nazideutschland erzählen als diejenigen ihrer ebenfalls nicht genannten Kollegin Anna Seghers. Während Seghers nach einer kurzzeitigen Verhaftung bereits 1933 aus Deutschland geflohen war und erst nach dem Ende der Naziherrschaft zurückkehrt, ging Keun erst 1936 ins zunächst belgische, dann niederländische Exil und kam nach der Besetzung Hollands 1940 unerkannt nach Deutschland zurück, wo sie bis Kriegsende illegal unter dem Namen Charlotte Tralow lebte. Ihre antifaschistischen Romane Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften (1936), Nach Mitternacht (1937) und Kind aller Länder (1937) konnte sie selbstverständlich nur in Exilverlagen veröffentlichen.

Etliche der Widerstandskämpferinnen in den besetzten Ländern sind zwar in ihrer Heimat wohlbekannt und werden auf verschiedene Weise gewürdigt. Sei es, dass Briefmarken mit ihrem Konterfei herausgegeben, ihnen Denkmale gesetzt oder Schulen und Straßen nach ihnen benannt wurden. Hierzulande weiß man hingegen nur wenig von ihnen, wenn überhaupt. Wer hätte beispielsweise schon von Marguerite Bervoets gehört, die nach dem Krieg zur „belgischen Nationalheldin“ wurde, oder von der Französin Berty Abrecht, die sich für „einen Staatsfeminismus“ stark machte. Frauen hatten es in der Resistance besonders schwer, denn der französische Widerstand hat „keine ‚Neue Frau‘ geschaffen und auch nicht entscheidend zu einer Veränderung des Frauenbildes in der französischen Gesellschaft beigetragen“, wie Hélène Viannay, „eine der bedeutendsten Kombattantinnen“ gegen die Naziherrschaft, beklagte. So mussten die Frauen der Resistance nach 1945 in Frankreich für ihre Anerkennung kämpfen. Denn sie wurden gesetzlich nicht als Widerstandskämpferinnen anerkannt, sondern galten nur als Helferinnen.

Mehr Recht widerfuhr der italienischen Widerstandskämpferin Tina Anselmi, die sich 1944 im Alter von nur 17 Jahren den PartisanInnen anschloss. 1963 wurde sie zur Vizepräsidentin der Europäischen Frauenunion gewählt und in der Regierung Andreottis leitete von 1976 bis 1979 zunächst das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit und dann das Gesundheitsministerium. In Deutschland aber weiß man sowohl von der einen wie von der anderen so gut wie nichts. Umso wichtiger ist es, dass sie in dem Buch von Christiane Goldenstedt und Lucie Aubrac vorgestellt werden.

Eine der ausländischen Widerstandskämpferinnen hat es allerdings auch, beziehungsweise gerade hierzulande zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Bezeichnenderweise allerdings nicht als Kämpferin gegen die Nazis, sondern aus völlig anderen Gründen, nämlich als Freundin und Briefpartnerin Franz Kafkas. Die Rede ist von Milena Jesenská, die in ihrer von den Nazis besetzten tschechoslowakischen Heimat vor Kriegsbeginn JüdInnen und AntifaschistInnen zur Flucht nach Polen verhalf. Sie überlebte die Naziherrschaft nicht, sondern kam im KZ Ravensbrück ums Leben. Nach dem Sieg über die Nazis wurde sie in ihrem nunmehr kommunistischen Heimatland wegen ihrer „Aversion gegen Stalin und gegen kommunistische Funktionäre“ als „abtrünnige Kommunistin“ diffamiert oder ganz totgeschwiegen. Erst nach dem Enden der kommunistischen Regime in Osteuropa hat sich das geändert.

Allen – Frauen wie Männern –, die den völkermörderischen und kriegsverbrecherischen Gräueltaten der Nazis nicht tatenlos zusahen und dafür oft mit ihrem Leben einstehen mussten, gebührt unsere Hochachtung und unsere Dankbarkeit; ganz gleich, welche Motive sie leiteten, wie und wo sie tätig waren, in Nazideutschland, den besetzten Ländern oder in nicht besetzten Ländern. Dank gebührt auch Florence Hervé und ihren Autorinnen dafür, dass sie einige der Frauen wieder in Erinnerung rufen. Nicht nur um des Gedenkens der Widerstandskämpferinnen willen. Sondern auch, weil es ein „Erinnern für die Zukunft“ ist. Denn es ruft uns alle auf, nach Kräften zu verhindern, dass sich ein ähnliches Grauen je wiederholt.

Titelbild

Florence Hervé: Mit Mut und List. Europäische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg.
PapyRossa Verlag, Köln 2020.
294 Seiten , 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783894387242

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